Wenn wir bei Brotgelehrte an Berufsprofilen arbeiten, versuchen wir meist, Einstiegswege aufzuzeigen. Dabei gibt es häufig nicht den einen Weg, der alternativlos ist. Selbst, wenn es Meistererzählungen gibt, stellen wir in der Praxis fest, dass die Wege viel individueller waren, als ein Einstiegsschema glauben lässt. Wir konnten u.a. schon kennenlernen: einen Geschichtsprofessor, der zuvor Berufssoldat war, eine Lektorin, die vor dem Germanistikstudium eine Ausbildung in der Altenpflege gemacht hat, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Institut für Philosophie, der nach Vertragsende ein Reinigungsunternehmen gegründet hat. In einem gängigen Bild von Lebensläufen würden wir fragen, wie diese nichteinschlägigen Vorerfahrungen möglichst unschädlich für die Laufbahnambitionen gemacht und die dann entstehenden Lücken sinnvoll gefüllt werden können. Wir können aber auch fragen, welche Stärken in der Vielfalt und Nicht-Linearität liegen und welche Konsequenzen ein „bunter“ Lebenslauf für die weitere Berufsorientierung haben kann. Das tun wir in diesem Blogartikel.

In der Beratung bezeichnen wir so ungewöhnliche Lebensläufe, deren Verlauf von der vermeintlichen Norm abweicht. Die vermeintliche Norm meint zum einen, dass eine bestimmte Qualifikationsreihenfolge besteht: Schule – Studium – berufspraktische Einstiegsphase – Berufstätigkeit. Zum anderen meint sie, dass bestimmte inhaltlich-methodische Kontinuitäten in diesem Qualifikationsprozess bestehen, z.B.

  • Leistungskurs Geschichte – Studium Geschichte M. Edu.– Referendariat Geschichte – Lehramt Geschichte oder
  • Leistungskurs Deutsch – Studium Germanistik M.A.– Volontariat im Verlagslektorat – angestellte Lektorin oder
  • 3. Abifach Philosophie – Studium Philosophie M.A. – Promotion zur Dr. phil.– Postdoc im Ausland – Juniorprofessur in der Philosophie – Tenure Track W2.

Idealerweise werden diese beiden verschränkten Entwicklungslinien noch mit passenden Hobbies und Nebentätigkeiten flankiert, z.B. auf dem Weg ins Lehramt Geschichte bei einem Nachhilfedienstleister, auf dem Weg ins Lektorat als ehrenamtliche Lesepatin, auf dem Weg zur Philosophieprofessur am besten gar kein Hobby, außer vielleicht ein bisschen Wandern oder Geigespielen. 😊

„Bunte“ Lebensläufe weichen von diesen stromlinienförmigen Entwicklungen ab. Sie enthalten z.B. längere Phasen außerhalb der erwerbsarbeitsorientierten Ausbildungslogik, einen Wechsel zwischen Studium und Ausbildung, Unterbrechungen aufgrund von Krankheiten, Berufstätigkeit, Migration oder Care-Arbeit oder Neuorientierungen mit der Aufnahme eines ganz anderen Studiums, eines Quereinstiegs oder eigener Gründung – oder eines Lebensentwurfs, der keine Erwerbsarbeit vorsieht.

Viele Menschen mit „bunten“ Lebensläufen haben insbesondere während der Jobsuche das Gefühl, den Erwartungen des Arbeitsmarkts oder potenzieller Arbeitgeber:innen nicht zu entsprechen oder gesellschaftliche Standards nicht zu erfüllen. Sie empfinden sich als „misfits“ oder defizitär, was die Jobsuche und Bewerbung zusätzlich erschwert.

Dabei bringen solche Lebenswege oft ein Leben voller Vielfalt zum Ausdruck, geprägt von Entscheidungsschwierigkeiten aufgrund von Hochbegabung, Vielseitigkeit oder einem breiten Interessensspektrum.

Diese facettenreiche Definition von bunten Lebensläufen verdeutlicht die Vielfalt und Einzigartigkeit der beruflichen Wege von Menschen. Sie unterstreicht die Bedeutung, jeden Lebenslauf als eine besondere Geschichte zu betrachten, die voller Erfahrungen, Lernmöglichkeiten und persönlichem Wachstum steckt.

Die äußeren Anlässe waren oben schon kurz erwähnt: Care-Arbeit, Migration, finanzielle Anforderungen, Krankheit, aber auch das temporäre Recruiting aus der Hochschule heraus, z.B. für Vertretungsstellen an einer Schule. Neben diesen pragmatischen Erklärungen – die im formalen Lebenslauf ja auch meist ersichtlich sind – sind jedoch die eher unsichtbaren Facetten interessant, wenn wir gleich nach Stärken und Konsequenzen fragen.

Ein recht häufiger Grund ist ein starker Wunsch nach Individualität und das Bedürfnis, sich den herrschenden Konventionen nicht anzupassen. Bereits die Entscheidung für ein geisteswissenschaftliches Studium kann eine unkonventionelle Entscheidung gewesen sein, die auf Widerstand in der Familie stieß, und dann auch noch die für B.A./M.A. statt wenigstens M.Edu…. Hier tummeln sich freie Geister und starke Individuen. Natürlich sind sie irgendwann mit der Frage nach dem beruflichen Verbleib konfrontiert, und hier mag sich etwas sperren – wir haben es oft in den Workshops erlebt: Geisteswissenschaften studiere man nicht zur ökonomischen Verwertbarkeit.

Ein weiterer Grund liegt in Entscheidungsschwierigkeiten, die auf ein breites Interessensspektrum oder vielseitige Begabungen (z.B. bei Scanner-Persönlichkeiten) zurückzuführen sind. Ich habe das persönlich erlebt im „Muster-Lebenslauf“ Leistungskurs Geschichte, Studium Geschichte, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaften, Promotion und Habilitation für Geschichte der Frühen Neuzeit – mein Arbeitsgebiet wurde immer enger, und ich wurde immer unglücklicher. Die Vorstellung, für den Rest meines Berufslebens nur noch die Frühe Neuzeit unterrichten und beforschen zu sollen, war für mich so unattraktiv, dass ich mich beruflich neu ausrichtete und die „erste Karriere“ relativ spät und sehr hoch qualifiziert abbrach.

Ich weiß, dass derzeit viel von Mindset-Arbeit die Rede ist, und auch für „bunte“ Lebensläufe können wir darüber nachdenken, unsere Haltung zum eigenen Lebenslauf liebevoller und großzügiger anzulegen und uns mehr auf die Stärken und Vorteile zu fokussieren.

Aber es lohnt auch ein einfacher Abgleich mit den Arbeitsmärkten. Ein abwechslungsreicher und nichtlinearer Lebensweg kann in passenden Kontexten nicht nur als akzeptabel, sondern sogar als wünschenswert angesehen werden. Die Orientierung sollte darum weniger auf konventionelle Arbeitsmärkte mit formalisierten Zugangsregeln wie den öffentlichen Dienst ausgerichtet werden, sondern auf diversitätspositive Märkte wie die Gründungsszenen oder kreative und innovative Branchen. Sie schätzen die Vielfalt und möchten sie auch zur Wertschöpfung einsetzen. Originalität und einzigartige Perspektiven stellen ein größeres Kapital dar als das Einhalten von Altersgrenzen und fachliche Enge.

Ein zweiter Blick kann diversitätsrealistischen Märkten gelten, etwa dem Bildungs- und Sozialwesen, das ja nicht nur in öffentlicher Trägerschaft ist. Ein breiter Erfahrungsschatz und vielfältige Perspektiven können eine tiefere Empathie und ein besseres Verständnis für die vielfältigen Bedürfnisse der Klientel oder der Lernenden ermöglichen. Auch eher generalistische Tätigkeiten, die auf ein fundiertes Methodenwissen setzen, das sich stets auf neue Inhalte ausrichten kann, wie es im Projektmanagement oder in der Projektarbeit der Fall ist, sind diversitätsrealistisch. Gleiches gilt für Stellen, die rasch besetzt werden müssen, weil sich formale Vorgaben verändern, aber die Studiengänge nicht so schnell nachziehen können; Beispiele aus der Vergangenheit waren die Datenschutzbeauftragten oder die Manager:innen für E-Learning (während der Pandemie) oder digitale Transformation (immer noch). Auch für die Beratungsbrache ist Diversittäsrealismus hinsichtlich der Lebensläufe geboten; letztlich werden Kund:innen beraten, die ihrerseits in kontinuierlichen Change- und Anpassungsprozessen stecken. Die Flexibilität und Problemlösefähigkeit von Menschen mit „bunten“ Lebensläufen werden geschätzt, insbesondere dann, wenn sie mit vertieften fachspezifischen Kenntnissen einhergehen.

Ein weiterer Aspekt ist die Auswahl des passenden Recruitingkanals. Das Verfahren Ausschreibung – Bewerbung ist zwar immer noch üblich, aber seine Relevanz sinkt. Der Nachteil dieses Verfahrens für Menschen mit „bunten“ Lebensläufen ist, dass Auswahlkriterien sich zumindest in der Rhetorik an einer irgendwie gearteten Norm ausrichten. Darum lohnt es, andere Recruitingwege zu gehen, bei denen der Abgleich mit stromlinienförmigen Wunsch-Personas weniger nachteilig ausfällt. Die Registrierung in Talentpools kann ein solcher Weg sein. Wenn Talentpools durchsucht werden, dann nicht nach einem Lebenslauf, sondern nach bestimmten Kompetenzen und Erfahrungen, die für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sind. Die Ausrichtung erfolgt viel stärker mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft, und die muss sich nicht notwendig aus der Vergangenheit der Kandidatin oder des Kandidaten begründen. Auch ein SEO-optimiertes LinkedIn-Profil, das die Selbstbeschreibung auf die Wunschstellen ausrichtet, bietet gegenüber der klassischen Bewerbung Vorteile. Letztlich sind Organisationen weniger wählerisch, zum einen, weil sie unter Personalmangel leiden, zum anderen – auch wenn sie nicht unter Personalmangel leiden, weil sie festgestellt haben, dass der Weg zum Erfolg und zu guten Mitarbeiter:innen nicht immer und nur über einen geradlinigen Lebenslauf führt.

„Bunte“ Lebensläufe sind mehr als nur eine Ansammlung individueller, unkonventioneller beruflicher Entscheidungen oder Fremdeinwirkungen; sie spiegeln die dynamische und vielfältige Natur der Arbeitswelt. Darum lohnt es sich, den eigenen „bunten“ Lebenslauf nicht auf seine Nachteile hin zu befragen und jene kompensieren zu wollen, sondern die Fähigkeit, über die Grenzen traditioneller Berufswege hinaus zu leben, als Stärke und Vorteil zu begreifen. Weiterhin kann es eine Überlegung sein, mit einem „bunten Lebenslauf“ eher auf Arbeitsmärkte zu gehen, die diese Vielfalt wertschätzen, statt sich in einem Umfeld abzuarbeiten, das einem Standardentwurf folgt und alle Eingänge nur auf ihre Abweichungen hin prüft und bewertet.

  • Bauer, Annette: Vielbegabt, Tausendsassa, Multitalent? Achtsame Selbstfürsorge für Scannerpersönlichkeiten, Paderborn 2017
  • Heintze, Anne: Auf viele Arten anders: Die vielbegabte Scanner-Persönlichkeit: Leben als kreatives Multitalent, München 2016
  • Kernbach, Sebastian: Life Design: Mit Design Thinking, Positiver Psychologie und Life Loops mehr von sich in das eigene Leben bringen, Stuttgart 2020
  • Lewrick, Michael: Das Design your Future Playbook: Veränderungen anstoßen, Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden steigern, München 2019
  • Neubauer, Aljoscha: Mach, was du kannst: warum wir unseren Begabungen folgen sollten – und nicht nur unseren Interessen, München 2018
  • Sher, Barbara: Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast, München 2012
  • Vogels, Rebecca: Erzähl dein Leben neu: wie Storytelling dir zeigt, wer du wirklich bist, München 2020
  • Weinand, Gesa: Agile Karrieregestaltung. Ein Workbook für die Karriere 4.0, Stuttgart 2019
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