Auf der Suche nach den großen Geistern: Welche besonderen Fähigkeiten haben zeitgenössische Renaissancemenschen?
Die Renaissance, eine Epoche der europäischen Geschichte des 14. bis 16. Jahrhunderts, ist in vielerlei Hinsicht identitätsbildend für die „westliche Zivilisation“: Außergewöhnliche Werke und Leistungen entstanden in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und politischer Strategie. Zu den Merkmalen der Renaissance gehört auch eine deutliche Betonung des Individuums und die künstlerische Ausformung des „Ich“, etwa im Selbstporträt und auch in der Literatur, etwa der subjektiven Perspektive der Essais von Montaigne. Zu diesen künstlerisch-reflexiven Experimenten mit dem Ich zählen auch das Beleben ganz unterschiedlicher Talente und die Vertiefung in verschiedene Interessen, wie wir es etwa – relativ früh – bei Leonardo da Vinci und – für die Renaissance schon etwas spät – bei Anna Maria van Schurmann sehen. Immer wieder werden in den Folgezeiten Menschen sichtbar, die nicht nur über eine erstaunliche Fähigkeit verfügten, sondern die sich für fast alles interessierten und die Wissen und Kompetenz in verschiedenen Fachgebieten besaßen: Leibniz, Goethe, Lovelace etwa. Bis heute bezeichnet man Menschen, die sich vielseitig interessieren und dieses Interesse in Kompetenz umwandeln als „Renaissancemenschen“; ein anderer Ausdruck ist „Universalist*in“.
Was unterscheidet Renaissancemenschen von Generalist*innen?
Bei der Debatte um professionelle Persönlichkeitsprofile wird recht häufig die Polarität von Generalismus und Spezialisierung betont. Sind Renaissancemenschen vielleicht einfach nur Generalist*innen in diesem Sinne? – Nein, wenngleich die Grenzen zwischen Universalismus und Generalismus fließend sind. Beide Begriffe beschreiben ein breites Wissen in vielen Bereichen. Generalist*innen profitieren von ihrer raschen Auffassungs- und schnellen Einarbeitungsgabe und von ihrer Methodenkompetenz, die es ihnen erlaubt, auch fremde Themen strukturiert zu flankieren. So sind sie häufig am richtigen Platz, wenn sie Projekte leiten oder koordinieren, die nicht ihrem ursprünglichen inhaltlichen Schwerpunkt entsprachen, oder wenn sie kommunikative Aufgaben für unterschiedliche fachliche Bereiche übernehmen – und sich dabei fachlich einbringen können.
In seinem Werk “The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist” betonte der Historiker Francis Ames-Lewis die Bedeutung der Intellektuellen und der Fähigkeiten, die in der Renaissancezeit gefördert wurden. Er erklärte: “Die Fähigkeit, auf verschiedene Fächer zurückzugreifen, sie zu kombinieren und in einem einzigen Projekt zu integrieren, war ein Schlüsselfaktor für den Erfolg der Renaissance-Künstler”.
Übertragen auf die Gegenwart können wir für Universalist*innen ableiten, dass sie sowohl über breites Wissen als auch über die Gabe verfügen, dies rasch zu vertiefen und zu kombinieren. Sie können besonders gut komplexe Probleme lösen und neue Gedanken entwickeln. Entsprechend bekennen sie sich nicht nur aus strategischen Gründen zur Interdisziplinarität; jene bildet vielmehr den als natürlich empfundenen Rahmen ihres Denkens. Entsprechend unzufrieden werden Renaissancemenschen, wenn sie sich – im akademischen Bereich – auf enge Lehrstuhldenominationen oder – in der Freiberuflichkeit – auf die angebliche Notwendigkeit zur spitzen Positionierung reduzieren sollen.
Welche Schwierigkeiten ergeben sich für Renaissancemenschen heute?
Im letzten Satz klang schon an, dass sich Universalist*innen aktuell mit einem Trend zur Spezialisierung, Eindeutigkeit und spitzen Positionierung ihrer Expertise konfrontiert sehen, oft in empfundenen Widerspruch zur Rhetorik von Interdisziplinarität. So kommt es vor allem in Kontexten, die den multiplen Begabungen misstrauen, vor, dass Renaissancemenschen Schwierigkeiten bei der Auswahl der am besten zu ihnen passenden und zu priorisierenden Projekte haben und/oder Projekte trotz ihrer Fähigkeiten nicht abschließen. Dies wird auch „Leonardo-Syndrom“ genannt. Die erdachten Lösungen kommen nicht ins Leben, die klugen Gedanken nicht in die Welt.
Doch jenseits der individuellen Thematik liegen Ursachen auch im Kontext, z.B. in der akademischen Projektarbeit, in der die Einbindung universalistischer Denkweisen nicht vorgesehen ist. Für viele Personen mit multiplen Intelligenzen ist dies ein Spagat: in einem Feld, das sich grundsätzlich zur Inter- und Transdisziplinarität bekennt, nur einen Aspekt ihrer komplexen Denkwelt beisteuern zu sollen. Oder ihre Fähigkeiten, Gedanken und Erkenntnisse in unterschiedlichen Genres und Medien darzustellen, auf einen Kanal zu begrenzen. Oder die Geschwindigkeit des Denkens zu zügeln, weil das restliche Team aus Spezialist*innen besteht, deren Fokus gestört würde.
Gründe für diese Schwierigkeiten
Wenn wir angesichts der vielen Herausforderungen derzeit in einem Zeitalter leben, das „mehr denn je Fähigkeiten und Fertigkeiten [erfordert], die die Grenzen zwischen den Künsten, Wissenschaften und Technologien durchbrechen”, wie Clifford Geertz schreibt – wie kommt es dann, dass so viele multipel begabte Menschen sich frustriert fühlen und kein Umfeld finden, in dem sie sich entfalten können?
Die tiefe Spezialisierung in einem Fachgebiet wird in Deutschland traditionell hoch geschätzt. Wenn ich mich an meinen Bildungsweg zurückerinnere, dann war es eine Lernreise, in der während der Schule ein Fach nach dem anderen wegfiel (oder „abgewählt“ werden musste), im Studium nur noch drei Disziplinen vertreten waren (Magistra Artium), während der Promotion noch eine, und mit der Habilitation erfolgte die Einengung auf einen winzigen Teilbereich. Die Beschäftigung mit anderen Themen wurde in die Freizeit verlagert, was den Begriff der “Freizeitorientierung” gegenläufig konnotiert; tatsächlich wurden zu meiner Verblüffung Einflüsse aus meinem Studienfach Medienwissenschaft in die Methodik der Habilitation in Geschichte der Frühen Neuzeit kritisch kommentiert. Auch im Weiter- und Fortbildungsbereich sehen wir die Tendenz zur Reihung und Aktualisierung bestimmter Zertifizierungen, sehr selten gibt es die Möglichkeit, die unterschiedlichen Lernerfahrungen zu einem neuen Gesamtbild zu kombinieren.
Zugleich unterliegen multiple Intelligenzen einer gewissen Skepsis. Der Geniebegriff liegt in der Luft, und Genies sollen, müssen rar sein; wir sind nicht sehr großzügig in der Zuschreibung von Außergewöhnlichkeit. Darum ist auch der Hochstaplerbegriff nicht fern, da stets in Frage steht, wer die Deutungshoheit über multiple Begabungen hat – die Person selbst, natürlich, aber muss es nicht weitere Instanzen geben, die es bestätigen? Und welche sollten das sein, wenn System und Traditionen auf Spezialisierung angelegt sind?
Vor diesem Hintergrund ist es für Universalist*innen relevant, passende berufliche Kontexte zu finden, die es ihnen ermöglichen, zu gedeihen und ihre Fähigkeiten einzusetzen. Dafür ist es weiterhin relevant, dass sie eine für sich selbst, für ihr Umfeld und für das Aufgabengebiet passende Kommunikationsweise entwickeln, die ihr vernetztes Denken und ihre Komplexitätsfähigkeit ebenso zum Ausdruck bringt, wie sie auch verdeutlicht, dass die Reduktion auf nur ein Themenfeld sie lähmen würde.
Passende Kontexte für Renaissancemenschen
Akademische Tätigkeiten mit ihren hohen kognitiven Anforderungen, dem Trend zur interdisziplinären Arbeit und der Komplexität von Problemen und Strukturen sind eigentlich ein passendes Umfeld für Universalist*innen. Dennoch gilt auch hier, genau im Blick zu haben, wie die Tätigkeit definiert ist. Der akademische Rahmen an sich richtet sich eher an Spezialisierungen aus, die in Projektarbeiten interdisziplinär verschränkt werden. Die Forschungsförderung oder Projektleitungen sowie Funktionen außerhalb der Linienorganisation von Hochschulen können hingegen universalistische Denkweisen gut abbilden.
Auch in Beratungsunternehmen können sie ihre Stärken einsetzen; vor allem die Analyse komplexer Situationen und die Lösungsfindung durch vernetztes Denken kommen ihren Fähigkeiten entgegen. Auch strategische Planung, Entwicklungsaufgaben und Transformationsdesign passen zu ihnen.
Weiterhin lohnt der Blick auf kulturelle Unterschiede; der passende Kontext könnte ja auch im Ausland liegen. So haben die meisten englischsprachigen Länder eine lebhaftere Tradition des Universalismus als beispielsweise Deutschland sie hat; in der Folge sehen wir dort z.B. Geisteswissenschaftler*innen häufiger in die Wertschöpfung von Technologieunternehmen eingebunden als es bei uns der Fall ist.
Tatsächlich profitierte ich selbst von universalistischen Lehrenden; ich habe sie als anregende, ungewöhnliche und motivierende Persönlichkeiten in Erinnerung. Sie schufen sich ihr Umfeld selbst. Sie gründeten Schulen oder Akademien, Verlage oder Medienkanäle, mitunter gestalteten sie auch neue Hochschulprofessuren, und waren selbst in verschiedenen Rollen darin tätig – als Lehrende, Autor*innen, Unternehmer*innen und Kritiker*innen gleichermaßen.
Mögliche Schlussfolgerungen für die Produktivität und Kommunikation von Renaissancemenschen
Komplexität nicht nur zu durchdringen, sondern das Denkergebnis auch nachvollziehbar darzustellen, ist eine Herausforderung, die sich lohnt. Eine Herausforderung, weil das Denken der Darstellung stets vorauseilt und von vernetzt Denkenden bewusst verlangsamt und in lineare Darstellungsweisen übertragen werden muss. Dies lässt sich üben. Daniel Wiesner empfiehlt in seinem Blog infolge der Lektüre von Peter Burkes Buch The Polymath, seine Ideen gründlich auszuarbeiten, aber dann schneller zu schreiben, häufiger zu publizieren und dies in einem Wechselspiel mit qualitativer Verbesserung bzw. Rewriting. Vielleicht ist Ihr Kanal ja auch nicht das Schreiben sondern eine andere Form, etwa die Lehre oder das Gründen von Unternehmen.
Ich möchte dazu ermutigen, die eigene universalistische Ader ernst zu nehmen und in die Welt zu holen. Und nein: Dieser Text ist natürlich noch nicht fertig. Aber ich kann ihn loslassen.
Weiterlesen:
- Ames-Lewis, Francis: The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist, New York 2002
- Boehm, Omri: Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität | Universalismus als rettende Alternative, Berlin 2022
- Burke, Peter: Giganten der Gelehrsamkeit: Die Geschichte der Universalgenies, Berlin 2021
- Gardner, Howard: Multiple intelligences: The theory in practice, s.l. 1993.
- Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, Frankfurt am Main 2003
- Lobenstine, Margaret: The Renaissance Soul: How to Make Your Passions Your Life―A Creative and Practical Guide, New York 2013
- Sher, Barbara: Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast, 6. Auflage München 2018
- Sternberg, Robert J.: Wisdom, intelligence, and creativity synthesized, Cambridge u.a. 2003
- Zilsel, Edgar: Die Entstehung des Geniebegriffes, Tübingen 1926