Seit einigen Jahren sprechen wir über die mentale Gesundheit in Studium und Hochschulen, auch, weil die Zahlen der Menschen mit Beeinträchtigung erschreckend hoch sind und steigen. Unter den Studierenden sind es ca. 10%, die an einer psychischen Erkrankung leiden, die ihr Studium erschwert (Die Studierendenbefragung in Deutschland: best3 (studierendenwerke.de), S. 5). Der Anteil unter den Promovierenden ist noch höher. Eine empirische Studie von Katia Levecque u.a. zeigte 2017 auf:

“Results based on 12 mental health symptoms (GHQ-12) showed that 32% of PhD students are at risk of having or developing a common psychiatric disorder, especially depression.“

Die letzten Zahlen haben wir aus der Zeit der Pandemie und der begleitenden Maßnahmen; erwartungsgemäß waren sie noch einmal gestiegen und lagen bei um die 40% (Doctoral researchers’ mental health and PhD training satisfaction during the German COVID-19 lockdown: results from an international research sample | Scientific Reports (nature.com)).

Es gibt eine ganze Reihe an Tagungen, Beratungsangeboten und sogar Maßnahmen, die organisationalen Bedingungen zu verändern, die zu einer solche hohen Quote beitragen. Der heutige Beitrag widmet sich allerdings einer kleinen, pragmatischen Folge dieser hohen Zahlen und entspringt einer Teilnehmendenfrage: Wie gehe ich mit meiner psychischen Beeinträchtigung bei Bewerbungen um?

Der Bewerbungsprozess besteht meist aus mehreren einzelnen Begegnungen, sodass die Frage, wie und wann eine psychische Beeinträchtigung thematisiert wird, einen gewissen Spielraum kennt.

  1. Wahl der passenden Stelle und des passenden Arbeitgebers
  2. Verfassen und Einreichen der Bewerbung, ggf. mit Kontaktgespräch
  3. Auswahlgespräch
  4. Vertragsverhandlung/-gespräch und Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen
  5. Onboarding und erster Arbeitstag

Je nach Schwere der Beeinträchtigung oder Erkrankung stellte sich die Frage, ob Du nach einer Tätigkeit im allgemeinen Arbeitsmarkt suchst, oder ob die Krankheit es erforderlich macht, aufUnterstützte Beschäftigung – Wikipedia zu setzen.

Für Tätigkeiten im allgemeinen Arbeitsmarkt, jedoch mit einer hohen Sensibilität für Beeinträchtigungen, gibt es eine spezialisierte Jobbörse:  Startseite | myAbility.jobs. Sie adressiert nicht nur Geisteswissenschaftler:innen, sondern alle Berufe. Auch, wenn Du zu Deiner Zeit dort keine passende Stelle finden solltest, kann es helfen, durch die Ausschreibungen querzulesen, um etwas über die Sprache zu lernen, mit der Erkrankungen im Bewerbungs- und Recruitingprozess benannt werden.

Darüber hinaus kannst Du Dich informieren über

  • Berufe, in denen die Erkrankung ohnehin Thema ist und darum transparent kommuniziert werden kann (z.B. passende Stiftungen, Lobbyarbeit, aus der Not eine Tugend machen und selbst Diversitätsbeauftragte:r oder Mental Health Consultant werden …)
  • Berufe, die eine hohe Selbstbestimmtheit mitbringen/an die Bedürfnisse angepasst werden können: z.B. Selbstständigkeiten, Lektorat, Beratung, oft auch bei Kurator:innen, Wissenschaftsmanager:innen, Bibliothekar:innen
  • Arbeitsverhältnisse, die hohen Arbeitnehmerschutz bieten – z.B. im öffentlichen Dienst oder bei Gewerkschaften und Verbänden.

2. Verfassen und Einreichen der Bewerbung, ggf. mit Kontaktgespräch

Meist wird empfohlen, bei Bewerbungen nicht offen mit der Erkrankung umzugehen, da trotz des zunehmenden Bewusstseins für psychische Erkrankungen immer noch alte Bewertungsmuster wirken, die unterstellen, dass es bei einer Anstellung Probleme geben wird, die man lieber vermeiden möchte.

Die Bewerbung sollte – wie eigentlich immer – tätigkeitsbezogen sein; dabei betonst Du Deine tätigkeitsbezogenen Stärken und Deine Motivation für die Stelle.

3. Auswahlgespräch

Auch das Auswahl- oder Bewerbungsgespräch kannst Du stärkenorientiert vorbereiten. Du musst eine etwaige psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung nicht angeben, es sei denn, es ist ein taktischer Vorteil aufgrund des Stellen- oder Arbeitgeberprofils, oder es ist offensichtlich. Weiterhin kann es auch sein, dass Du selbst etwas zur Organisationskultur, Tätigkeit oder zum Team… wissen möchtest, weil es für Deine Entscheidung relevant ist. Hier wäre eine Überlegung, diese Fragen in einem gesonderten Termin z.B. mit der Gleichstellungsbeauftragten oder der Schwerbehindertenvertretung zu klären, ggf. auch vorab.

Es kann auch sein, dass Du eine Person bist, die lieber von vornherein mit offenen Karten spielt. Eine Kombination aus Stärkenorientierung, Tätigkeitsbezug und Authentizität könnte dann Dein Vorbereitungsschwerpunkt sein.

Mehr dazu:

4. Vertragsverhandlung/-gespräch und Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen

Hier wäre der richtige Zeitpunkt, damit etwaige spezielle Bedürfnisse und Konditionen für die Gestaltung der Stelle und Aufgaben berücksichtigt werden können. Bei einer Verbeamtung kommt zudem der Amtsarzt:die Amtsärztin ins Spiel Beamtenrecht: Psychische Krankheiten und Verbeamtung (anwalt.de).

5. Erster Arbeitstag und Onboarding

Während der ersten Kontakte entscheidest Du, wer was über Deine Erkrankung wissen muss. Hier kann es um die Arbeitsplatzgestaltung, Zeitplanung aufgrund von Therapieterminen, interne Absprachen etc. gehen.

Insgesamt ist meine Wahrnehmung zur Praxis ambivalent: Einerseits gibt es ein viel höheres Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen als noch vor einigen Jahren. Andererseits haben inzwischen auch viele Arbeitgeber, Personalabteilungen und Teams Erfahrungen mit einem offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen gemacht, und die sind nicht immer positiv: Auf den Ausfall von Mitarbeiter:innen muss man reagieren, mitunter kommen die internen Prozesse zum Stillstand oder sind gestört, andere springen ein, oft zulasten ihrer eigenen Regenerationszeiten, in der Folge gibt es Unruhe im Team, der Stress steigt – die Spirale dreht sich weiter, und dies zuungunsten der mentalen Gesundheit aller.

Der Umgang mit psychischen Erkrankungen im Bewerbungsprozess sollte sensibel und durchdacht erfolgen. Zwar gibt es zunehmend Verständnis für mentale Gesundheit, aber dennoch bestehen nach wie vor Vorurteile und Unsicherheiten, die für Betroffene Hürden darstellen können. Darum lohnt es sich, den Bewerbungsprozess stärkenorientiert und selbstbewusst zu gestalten.

Die Entscheidung, ob und wie eine psychische Beeinträchtigung thematisiert wird, liegt natürlich im eigenen Ermessen. Der Beitrag zeigte auf, dass die Antwort sich nicht auf den Prozess im Ganzen beziehen muss, sondern differenziert vorgehen kann. Du kannst steuern, wann die eigenen Stärken und die Motivation an der Stelle im Vordergrund stehen sollen, und wann Deine Bedürfnisse und die von Team und Arbeitgeber adressiert werden sollten, damit eine authentische, selbstbestimmte Kommunikation möglich wird – offen und ehrlich, wenn es hilfreich ist, oder auch zurückhaltend, wenn es dem Selbstschutz dient. Die wachsende Zahl an Angeboten und Anlaufstellen zeigt, dass sich das Arbeitsumfeld zunehmend auf die Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen einstellt. Entscheidend bleibt: Du hast das Recht und die Verantwortung, Deine eigene berufliche Zukunft zu gestalten – in Deinem Tempo, nach Deinen Möglichkeiten und mit der Wahl eines Umfelds, das für Dich positiv wirken kann.

Mentale Gesundheit im Job: Datenbasierte Strategien und proaktives Handeln – Brotgelehrte

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