Mit oder ohne Zertifikat?

In den letzten Jahren mehrten sich in Brotgelehrte-Workshops die Wünsche, etwas über das Berufsbild des*der Coach zu erfahren. Meist waren damit schon erste thematische Vorstellungen verknüpft, etwa Schreibcoaching, Coaching im Bereich mentale Gesundheit oder Berufsorientierung für Schüler*innen. Die Coaching-Branche wächst und ist stark differenziert. Bietet sie also Chancen für Geisteswissenschaftler*innen?

Ohne Zertifikat

Sie bietet durchaus Chancen, aber es lohnt, dieser Differenzierung nachzugehen. Denn eine der ersten – sorgenvollen – Nachfragen gilt fast immer der Zertifizierung. „Coach“ ist keine geschützte Berufsbezeichnung, insofern braucht es formal gesehen keine Zertifizierung, um mit dieser Bezeichnung am Markt aufzutreten. Da es kein allgemein gültiges Zertifikat gibt, kann es in manchen Arbeitsbereichen auch dabei bleiben; es sind die fachliche Qualifikation und Kompetenz, die das Kundenbedürfnis bedienen. Wenn sich z.B. eine promovierte Literaturwissenschaftlerin, die schon während ihres Studiums am Schreibzentrum der Uni Workshops mit konzipiert und durchgeführt hat, als Schreibcoach selbstständig machen möchte, ist es sinnvoller, sich in Schreibdidaktik und der Dynamik des Schreibens, z.B. mit KI-Unterstützung, kontinuierlich weiterzubilden, als sich beim DCV zertifizieren zu lassen. Wenn ein Philosoph sich auf den Bereich Technikethik spezialisiert hat und in Unternehmen Workshops und Beratungen zur Technikethik anbietet, gilt i.W. dasselbe – er ist qualifiziert und wird nachgefragt aufgrund seiner Fachkompetenz und Expertise. Typische Coaching-Themen, die die fachliche Expertise von Geisteswissenschaftler*innen abfragen, sind
Umgang mit Texten, Lesen, Schreiben (Philologien),
Ethik und Lebensereignisse (Philosophie, Theologie),
Erinnerung, Überlieferung, Genealogie, Biografie (Geschichte),
Interkulturalität (je nach fachlichem Schwerpunkt, Ethnologie),
Rhetorik und Kommunikation (Kommunikationswissenschaften, Philologien),
Pädagogik und Didaktik (Pädagogik und Fachdidaktiken).
Ein Coachingzertifikat (auch von renommierten Anbietern) ist in diesen Arbeitsbereichen häufig nebensächlich.

Mit Zertifikat

Warum „fast immer“? Weil es Arbeitszusammenhänge gibt, in denen die Zertifizierung zwar nichts mit der eigentlichen Leistung zu tun hat, aber mit der Möglichkeit der Kostenübernahme, etwa als autorisierte*r Karrierecoach der Agentur für Arbeit. Auch die Möglichkeit zur Weiterbildung von Coaches oder Personalentwickler*innen kann daran geknüpft sein, selbst ein Zertifikat vorzulegen, das wiederum die Qualifikation der Ausgebildeten rahmt.

In dem vorangegangenen Absatz ging es um Coaching-Angebote, die sich aus der fachlichen Expertise ableiten. Manche Geisteswissenschaftler*innen überlegen jedoch, sich aus dem Fachkontext zu lösen und in ein neues Arbeitsfeld einzutreten, das stärker von anderen Anforderungen geprägt ist, z.B. in Nähe zur Wirtschaftspsychologie beim klassischen Business Coaching, im Gesundheitssektor bei Stressmanagement oder Mentaltraining oder im sozialen Bereich, z.B. zu Fragen der Integration oder in der Konfliktmoderation. Diese (und viele weitere) Arbeitsgebiete verfügen über ein reiches systematisches Methodenrepertoire, das zwar Schnittmengen zu geisteswissenschaftlichen Methoden aufweist, jedoch darüber hinausgeht. Um diese Methodenkompetenz zu erlangen – zu der die Auswahl der passenden Vorgehensweise gehört – ist es meist sinnvoll, sich gezielt und intensiv weiterzubilden und auch zu zertifizieren. Zum einen bietet die Zertifizierung auch für Kund*innen eine qualitätsbezogene Orientierung im großen Coachingmarkt. Zum anderen bieten Weiterbildung und Zertifizierung ein Netzwerk mit anderen Coaches und Multiplikatoren, mit denen Austausch über Markteintritt, Veränderungen und Anforderungen möglich ist. Unabhängig von der marktorientierten Zertifizierung ist es mir persönlich wichtig, darauf hinzuweisen, dass in hochwertigen Weiterbildungen stets auch die Grenzen von Coaching thematisiert werden. Meiner Erfahrung nach suchen mitunter Personen in Krisen nach Coaching, weil sie noch gar nicht wissen, dass sie therapiebedürftig sind oder weil sie auf einen Therapieplatz warten und im Coaching vorab pragmatische Anteile der Krise bearbeiten möchten. Diese feine, sensible Grenze zu erkennen und zu wahren ist eine große Verantwortung; in professionellen Weiterbildungen ausgewiesener Anbieter lernt man, dieser Verantwortung unter Beachtung der eigenen Ressourcen gerecht zu werden. Aufgrund der fachlich-methodischen Nähe zu den Herkunftsfächern und auch aufgrund des intellektuellen Anspruchs sind sowohl systemische Arbeitsweisen als auch die Organisationsentwicklung passende Weiterbildungen für Geisteswissenschaftler*innen, die sich professionalisieren und zertifizieren möchten.

Coaching, Beratung, Mentoring…?

Nun handelte dieser Beitrag vom „Coaching“, und die erste Perspektive richtete sich auf die fachliche Spezialisierung. Meiner Beobachtung nach – und auch gemäß meiner eigenen „Coaching“-Praxis – bieten viele Kolleg*innen kein Coaching, sondern andere Formen der Beratung. Auch bei Brotgelehrte coachen wir nur sehr selten; meist begegnen wir offenen Fragen von Klient*innen mit unserem Feldwissen, beraten also. Oder wir geben auf der Grundlage unserer Erfahrung und unserer Marktbeobachtung Feedback zu Bewerbungsunterlagen – auch das ist kein Coaching. Warum wird dann der Begriff verwendet; haben wir nicht gerade als Geisteswissenschaftler*innen gelernt, uns mit einer präzisen Nomenklatur auszustatten? – Durchaus. Und zugleich handelt es sich beim „Coaching“ (alle anderen selbstständigen Beratungsformate hinzugedacht) um einen überwiegend von Selbstständigen geformten Markt, für den die Akquise überwiegend über Empfehlungen und Internetschnittstellen erfolgt. Potenzielle Kund*innen differenzieren eher selten, ob sie „Coaching“, „Beratung“, „Supervision“ oder „Mentoring“ benötigen; der Begriff „Coaching“ wird als Sammelbegriff verwendet und so auch in Suchmaschinen eingegeben. Die Selbstbezeichnung „Coach“ kann darum auch der Auffindbarkeit dienen; was genau den Kundenwunsch bedient, wird im Erstgespräch geklärt.

Insofern, liebe Geisteswissenschaftler*innen, die ihr Coaches werden wollt: nur zu! Die Märkte sind da, Eure Spezialisierungen ebenfalls; Weiterbildungen mit und ohne Zertifizierung weiten den Blick und fundieren die Methodik, sodass die Kund*innen adäquat unterstützt werden, ihre Ziele zu erreichen.

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