5 Mythen über die Jobsuche von Geisteswissenschaftler*innen
1. Mythos: Auf uns warten nur prekäre Beschäftigungen!
Ja, insbesondere die Übergangsphase zwischen Studium und beruflicher Etablierung kann prekär sein: nur anteilige befristete Beschäftigungen im wissenschaftlichen Dienst oder Volontariate etwa. Und auch ja: Insbesondere für Frauen ist zu beobachten, dass sie aus unterschiedlichen Gründen länger in diesen prekären Beschäftigungen verharren als Männer es tun.
Aber nein: Das liegt nicht an der Fachgruppe – es gibt sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft und in der Selbstständigkeit adäquate Positionen. Wo? Überall dort, wo entweder Führungsverantwortung mit der Stelle einhergeht oder eine klare Wertschöpfung erfolgt. Konkrete Beispiele findest Du im neu aufgelegten Sammelband Brotgelehrte 1&2.
Die prekäre Lage spiegelt mitunter auch die eigene Unentschlossenheit. Menschen wählen bewusst Positionen aus, die befristet sind und wenig Entwicklungspotenzial bieten, da sie ihnen die Funktionen zuweisen, die Zeit bis zur „richtigen“ Stelle zu überbrücken und zugleich während dieser Zeit hervorzubringen, was denn überhaupt die „richtige Stelle“ ist. Wir haben dazu einen Blogbeitrag, schau mal: 40 Gründe, warum GeisteswissenschaftlerInnen die Berufsorientierung schwerfällt – Brotgelehrte
So durchdringen sich unterschiedliche Unzufriedenheiten: die über die eigene Entscheidungsblockade mit der über die objektiv wirklich nicht tolle Stelle und dem Narrativ, das sei als Geisteswissenschaftler*in ohnehin nicht anders zu erwarten gewesen, weil Gesellschaf/Arbeitsmarkt uns einfach nicht schätzten. Es lohnt, diese Unzufriedenheiten voneinander getrennt zu „behandeln“ und insbesondere das identitätsstiftende Prekariats-Narrativ einmal zu hinterfragen.
2. Mythos: Geisteswissenschaftler sind Generalisten!
Vor ungefähr 20 Jahren, als wir in den Unis erstmals definieren mussten, auf welche Arbeitsfelder sich unsere „Employability“ richtet, kam die Charakterisierung der Geisteswissenschaftler als Generalisten auf. Praktisch, dann muss man nämlich gar nicht mehr definieren und auch keine Forderungen nach transferorientierten Angeboten bedienen.
Diese Charakterisierung ist insofern falsch, als dass alle Masterabsolvent*innen unserer Fächer spezialisiert sind, nämlich auf die Inhalte und Methoden unserer Fächer. Entsprechend sind sie Spezialist*innen für ihre Themen und Arbeitsweisen. Darüber hinaus können insbesondere die Arbeitsweisen auch auf fachfremde Kontexte übertagen werden, zudem haben sie oft ein breites Allgemeinwissen und eine überdurchschnittliche Abstraktionsfähigkeit; damit sind sie aber noch keine Generalist*innen. Und auch, wenn sie intuitiv oder aufgrund von fachübergreifenden Kompetenzen in der Lage sind, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten – was im Grunde auch kein Alleinstellungsmerkmal unserer Fächer ist – sind sie eben anpassungs- und lernfähig, jedoch nicht notwendig auch Generalist*innen. Jene nämlich sind dadurch gekennzeichnet, dass sie bereits ein breit gefächertes Wissen und umfassende Kompetenzen haben. So können sie gut „das große Ganze“ sehen, analysieren, Zusammenhänge erfassen und vernetzt denken. Im Projektmanagement etwa kommen auch Geisteswissenschaftler*innen als Generalist*innen gut unter. Aber Generalismus bedeutet eben nicht, alles zu können und nichts so richtig. Und er bedeutet auch nicht, dass Autodidaktik grundsätzlich genügt – gerade anspruchsvolle Tätigkeiten, die unterschiedliche Arbeitsbereiche koordinieren, brauchen methodengestützte Arbeit.
Blogbeitrag: Geisteswissenschaftler sind Generalisten? – Brotgelehrte
3. Mythos: Mach Lehramt, da hast Du was Sicheres!
Ja, wenn Du eine Stelle mit Deiner Fachkombination bekommst und die Voraussetzungen zur Verbeamtung erfüllst und eine gewisse psychosoziale Robustheit („Gesundheitsrisiko Lehramt“) mitbringst, kann das Lehramt etwas „Sicheres“ sein.
Zugleich sind die Arbeitslosenzahlen im Übergang vom Studium in den Beruf bei Absolvent*innen mit Fachmasterabschluss und Lehramtsabschluss annähernd gleich. Weiterhin gab die Hälfte der Schulleitungen gab 2022 an, „dass es in den letzten Jahren vermehrt zu langfristigen Ausfällen im Kollegium gekommen sei.“ Nicht alle Geisteswissenschaften sind an Schulen vertreten. In einigen Bundesländern wurden auch die Anteile reduziert oder Fächer interdisziplinär zusammengelegt, damit mehr Raum für MINT ist. Und letztlich ist der Lehramtabschluss überhaupt nichts Sicheres, wenn Du gar nicht ins Lehramt willst – dann folgen dieselben Fragen, die Du auch mit einem Masterabschluss hättest.
Blogbeitrag: Lehramtstudium – und dann? – Brotgelehrte
4. Mythos: Mit einem geisteswissenschaftlichen Studium kannst Du ins Archiv, in die Bibliothek, ins Lektorat gehen.
Jein. In den letzten Jahren gingen die Ausschreibungen im Archiv- und Bibliotheksbereich deutlicher in die Richtung der Absolvent*innen mit entsprechenden Studiengängen (Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Informationswissenschaften, Archivwissenschaft, Digitales Datenmanagement). Nur noch vereinzelt sehen wir Ausschreibungen, für die ein fachwissenschaftlicher Master aus den Geisteswissenschaften, z.B. Geschichte, genügt. Da aber auch im Archivwesen seit einiger Zeit der Fachkräftemangel Thema ist, sehen wir im Ausschreibeverhalten höhere Flexibilität hinsichtlich
5. Mythos: Man braucht Erfahrung für Erfahrung.
Hier liegt meines Erachtens ein Missverständnis vor. Wenn für eine Einstiegsstelle „Erfahrung“ verlangt wird, meint dies in der Regel Erfahrungen, die im Rahmen des Studiums erworben werden konnten: in Betriebspraktika (nicht: Orientierungs- oder Schnupperpraktika!), Nebentätigkeiten, Ehrenamt, Weiterbildungen, studentischen Arbeiten wie als Werkstudent*in. Das Missverständnis liegt dann darin, dass Du vermutlich gar nicht auf eine Einstiegsstelle gestoßen bist, wenn mehrjährige Erfahrung verlangt wird, sondern auf eben auf eine Stelle für Menschen mit Berufserfahrung. Aus unseren wöchentlichen Stellenauslesen wissen wir, dass der Anteil von Ausschreibungen für Menschen mit Berufserfahrung höher ist als der für Ausschreibungen von Einstiegsstellen. Darum differenzieren wir in unserem Newsletter in Stellen „mit Abschluss“, also für die ersten zwei bis drei Jahre nach Studienende, und Stellen „mit noch mehr Abschlüssen und/oder Erfahrung“, also für die Zeit nach dem beruflichen Einstieg.