Wenn Arbeitskräfte knapp sind, kann man über ungewöhnliche Wege nachdenken. Warum also sich nicht einer Absolvent:innengruppe zuwenden, die bislang auf dem Arbeitsmarkt für die freie Wirtschaft jenseits der einschlägigen Branchen Bildung und Kultur nicht prominent war: Geisteswissenschaftler:innen. Um sie erfolgreich zu rekrutieren, braucht es ein wenig Wissen über ihren Hintergrund und ihre Eigenarten.

Dieses Missverständnis begegnete mir auf einer Hochschuljobmesse. „Geist = psyche“, nicht wahr, also könne man Geisteswissenschaftler:innen prima in F&E-Abteilungen der Automobilindustrie zur Erforschung des Verhaltens beim autonomen Fahren einsetzen.
Aber: Nur in wenigen Fakultäten gehört die Psychologie zu den Geisteswissenschaften. Die überwiegende Mehrheit der Studierenden ist in Fächern wie Literaturwissenschaften, Geschichte und Philosophie eingeschrieben. Insgesamt umfassen die Geisteswissenschaften über 100 Teildisziplinen, von denen viele sogenannte „kleine Fächer“ sind, etwa Buchwissenschaften oder Byzantinistik sowie viele fremdsprachige Sprach- und Literaturwissenschaften. An einigen Hochschulen werden die Geisteswissenschaften auch als Kulturwissenschaften bezeichnet, an anderen mit den Sozialwissenschaften zusammengefasst.

Die großen Fächer der Geisteswissenschaften bieten Studierenden in der Regel zwei Studienrichtungen: Lehramt und Fachwissenschaft. In Studienberatungen wird häufig das Lehramtsstudium empfohlen, da es als sicherer Weg in den Beruf gilt. Der Unterschied zwischen beiden Studiengängen wird oft als marginal dargestellt, obwohl es signifikante Unterschiede in den Schwerpunkten und Anforderungen gibt.

Die Folge ist, dass viele Lehramtsstudierende ohne eine echte Leidenschaft für den Beruf in die Schulen gehen und offen sind für andere Optionen. Viele Studierende haben ein breites Spektrum an Interessen und könnten sich auch Tätigkeiten in der Medienbranche, in der privaten Bildungslandschaft und Personalentwicklung oder anderen Bereichen vorstellen.

Viele klassische Berufsfelder, wie das Lehramt, die Arbeit in Archiven, Kulturinstitutionen oder wissenschaftlichen Einrichtungen, sind fest im öffentlichen Dienst verankert. Diese institutionelle Nähe prägt die Arbeitsweise und die Wertvorstellungen von Geisteswissenschaftler:innen. Sie sind oft an gesellschaftlichen Fragestellungen interessiert und schätzen eine Tätigkeit, die einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet. Diese Orientierung kann für Unternehmen, die nach Personal mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Verantwortung suchen, von großem Vorteil sein.
Allerdings kann diese starke Orientierung am öffentlichen Dienst auch Herausforderungen mit sich bringen. Geisteswissenschaftler:innen sind oft weniger mit betriebswirtschaftlichen Fragestellungen vertraut und müssen sich an die dynamischen Prozesse und Ziele eines Unternehmens anpassen. Zudem sind sie möglicherweise nicht proaktiv auf der Suche nach einer Karriere in der Wirtschaft und benötigen eine gezielte Ansprache.

Viele Geisteswissenschaftler:innen verbinden die freie Wirtschaft häufig mit stereotypen Vorstellungen von großen Konzernen, die vor allem auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind. Und da sind sie auch oft gut in ihrer Kritik! Sie kennen die Vielfalt der Wirtschaftslandschaft insgesamt und die Eigenarten ihrer regionalen Wirtschaft oft nicht und denken dabei primär an Branchen wie die Automobilindustrie oder die IT. Kleinere und mittelständische Unternehmen sowie die Nischen und Spezialbereiche der Wirtschaft, in denen Geisteswissenschaftler:innen ihre Fähigkeiten besonders gut einbringen können, bleiben häufig unbeachtet. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass z.B. die Kulturwirtschaft ein klassischer und fachnaher Arbeitsmarkt ist. Diese eingeschränkte Perspektive erschwert es ihnen, die vielfältigen Karrierechancen in der freien Wirtschaft zu erkennen – es hilft, sie direkt zu adressieren und sich in ihren Orientierungsmedien sichtbar zu machen.

Ein weiterer Grund, warum Geisteswissenschaftler:innen oft eine gewisse Skepsis gegenüber der freien Wirtschaft hegen, sind ethische Bedenken. Sie assoziieren die Wirtschaft häufig mit dem Streben nach maximalem Gewinn und sehen darin einen Widerspruch zu ihren eigenen Werten. Diese Skepsis wird durchaus durch eine vereinfachte Gegenüberstellung von Gewinnorientierung und gesellschaftlicher Verantwortung verstärkt. Unternehmen, die Geisteswissenschaftler:innen rekrutieren möchten, müssen diese Bedenken ernst nehmen und deutlich machen, dass eine erfolgreiche Wirtschaft nicht zwangsläufig mit einer Ausbeutung von Mensch und Natur einhergehen muss.

Die Rekrutierung von Geisteswissenschaftler:innen erfordert ein Umdenken sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch auf Seiten der Studierenden. Unternehmen müssen ihre Vorstellungen von den Fähigkeiten und Qualifikationen, die sie suchen, erweitern und sich stärker für die Vielfalt der Talente öffnen. Studierende wiederum sollten sich besser auf die Anforderungen eines breiter gedachten Arbeitsmarktes vorbereiten und ihre Fähigkeit zur Differenzierung auf die „freie Wirtschaft“ ausdehnen.

Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten Teil 2 – Brotgelehrte
Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten Teil 3 – Brotgelehrte

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