Organisation und Persönlichkeit

In den ersten beiden Teilen dieser Blogreihe haben wir uns mit grundlegenden Informationen und den Stärken von Geisteswissenschaftler:innen befasst. In diesem Beitrag geht es um Punkte, die für die Ansprache relevant sind – der richtige Zeitpunkt, die Tonalität und der Umgang mit ihren (vermeintlichen) Schwächen.

Die fachwissenschaftlichen Studiengänge und auch die Promotion kennen keine festen Prüfungstermine, im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen und auch zum Lehramtstudium. Das bedeutet bezüglich des Recruiting, dass es eigentlich jederzeit Absolvent:innen auf Einstiegssuche gibt. Für die Lebensläufe derjenigen, die bereits eine erste Stelle hatten und sich nun weiterentwickeln möchten, kann es heißen, dass zwischen Abschluss und Einstieg eine überdurchschnittliche Wartezeit liegt – nicht unbedingt wegen Schwierigkeiten, die von der Bewerber:in verursacht wurden, sondern möglicherweise aufgrund eines Abschlusszeitpunkts, der nicht zu den Einstellungszyklen passte.

Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie ihre Rekrutierungsstrategie anpassen können. In den Geisteswissenschaften können sie kontinuierlich nach Talenten Ausschau zu halten. Zudem sollten Unternehmen darauf vorbereitet sein, dass Blindbewerbungen unterjährig eintreffen, und sicherstellen, dass sie entsprechende Einstiegsprozesse anbieten. Dies signalisiert Flexibilität und Offenheit und schafft zugleich eine attraktive Perspektive für hochqualifizierte Bewerber:innen.

Geisteswissenschaftler:innen zeichnen sich oft durch eine zurückhaltende Selbstdarstellung aus. In akademischen Kreisen wird Bescheidenheit häufig als Tugend angesehen, und viele dieser hochqualifizierten Menschen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten und Erfolge weniger offensiv zu präsentieren als in anderen Bereichen. Diese Zurückhaltung ist keine Schwäche, sondern eher eine kulturelle Prägung des akademischen Umfelds, in dem sie sich bewegt haben. Oft ist auch eine gewisse Koketterie dabei.

Für Unternehmen kann dies jedoch eine Herausforderung darstellen, da Talente und Kompetenzen nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind. Zum Beispiel hatte ich eine Promovierende in der Beratung, die ihre Französischkenntnisse lieber nicht in den Lebenslauf schreiben wollte. Im direkten Gespräch gehe es ja, aber bei Telefonaten fühle sie sich immer etwas ungeschickt. Mir selbst geht es auch so. Natürlich habe ich schon erfolgreich Führungskräfte gecoacht. Aber nicht dazu publiziert. Also schreibe ich es nicht in mein Portfolio.

Statt sich allein auf das zu verlassen, was direkt angesprochen wird, können Unternehmen gezielte Fragen stellen, um die Tiefe der Erfahrung und die Vielfalt der Fähigkeiten herauszuarbeiten. Ein offenes Gespräch, das Raum für Reflexion und Selbsteinschätzung lässt, kann dazu beitragen, verborgene Talente zu entdecken.

Die Grenze zwischen Bescheidenheit und geringem Selbstbewusstsein ist fließend. Zu Beginn von Workshops spiele ich gern Bullshit-Bingo: Wer hat folgende Sätze schon gehört:

    • Was willst du denn damit machen?

    • Aber Geld verdienst Du damit nicht.

    • Das braucht man doch nicht studieren, das ist ein schönes Hobby.

Usw. Viele Dozierende tun ihr Übriges, indem sie ein Berufseinstiegsszenario entwerfen, das verunsichert und zu einer merkwürdigen Dysbalance führt: fachlich exzellent ausgebildet und mit sehr guten Noten einerseits, verunsichert und an sich selbst zweifelnd andererseits. Als würden sie ihre Fähigkeit zum kritischen Denken permanent auf sich selbst anwenden.

Für Unternehmen bedeutet das, dass sie bei der Rekrutierung von Geisteswissenschaftler:innen sensibel auf diese oft tiefsitzenden Selbstzweifel eingehen sollten. Es ist wichtig, diesen Kandidat:innen das Gefühl zu geben, dass ihre Qualifikationen nicht nur ausreichend, sondern wertvoll, nicht selbstverständlich, sondern spezialisiert sind. Eine klare und wertschätzende Ansprache kann viel dazu beitragen, dieses Vertrauen zu stärken und ihnen zu zeigen, dass ihre Fähigkeiten – kritisches Denken, analytische Kompetenz, kreative Problemlösungen – in der Arbeitswelt geschätzt und gebraucht werden. Eine vielleicht absurde Situation: Das Unternehmen ermöglicht es den Bewerber:innen, sich überhaupt als Bewerber:innen zu verstehen. Die Botschaft lautet:

Ja, Du bist wirklich gemeint. Ja, wir trauen Dir das wirklich zu.

Viele promovierte Geisteswissenschaftler:innen haben eine lange und oft schwierige akademische Laufbahn hinter sich. Ihre Promotionen gelten in Hochschulkreisen als oft sehr ausgereift (z. B. nach Piper: Uni von innen), sie verfügen über Lehrerfahrung und Kenntnisse im Hochschulmanagement, jedoch meist auf befristeten Teilzeitverträgen, die wenig Sicherheit bieten. Oft haben sie in ihrer Freizeit zusätzliche Arbeit übernommen, um die Lücken zu füllen, die nicht durch den Vertrag abgedeckt waren, und dies unter dem ständigen Versprechen, dass sich diese Mühen beruflich auszahlen würden. Doch viele stellen enttäuscht fest, dass dieses Versprechen nicht gehalten wird, weder in Form von wissenschaftlichen Stellen noch durch attraktive Positionen außerhalb der Hochschule. Der Druck und die Unsicherheit, die mit dieser Situation einhergehen, führen dazu, dass viele promovierte Geisteswissenschaftler:innen die Hochschule erschöpft und zermürbt verlassen (Studie).

Für Unternehmen lohnt es daher, diese Hochqualifizierten mit Empathie zu rekrutieren. Sie sollten sich bewusst sein, dass diese Kandidat:innen in der Regel hochmotiviert und engagiert sind, jedoch auch erschöpft und frustriert sein können. Ein ehrliches und transparentes Bild der beruflichen Perspektiven sowie eine klare Wertschätzung ihrer bisherigen Leistungen können einen entscheidenden Unterschied machen. Ebenso kann es hilfreich sein, den Einstieg in eine neue berufliche Rolle durch Mentoring-Programme oder flexible Arbeitsmodelle zu erleichtern. Auf diese Weise können Unternehmen nicht nur hochqualifizierte Talente gewinnen, sondern auch dazu beitragen, diese wertvollen Mitarbeiter:innen langfristig zu motivieren und an das Unternehmen zu binden.

Geisteswissenschaftler: innen bringen oft ein breites Spektrum an Fähigkeiten mit, benötigen jedoch in der fachfremden Praxis eine gewisse Sprunghilfe, um ihr volles Potenzial zu entfalten. Der direkte Praxisbezug und der Transfer ihres Wissens in unternehmensspezifische Kontexte sind oft nicht Teil ihrer Ausbildung, und ihr Selbstbewusstsein leidet häufig unter den negativen Rückmeldungen, die sie im Laufe ihres Studiums erhalten haben. Verunsichernd kommt hinzu, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen in der Arbeitswelt nicht immer auf Anhieb erkannt und wertgeschätzt werden. All dies erfordert von Unternehmen zusätzliche Mühen: die Bereitschaft, Mentoring anzubieten, eine unterstützende Einarbeitung zu gewährleisten und gezielt auf die Stärken dieser Kandidat:innen einzugehen.

Dennoch lohnt sich der Aufwand. Geisteswissenschaftler:innen sind hochadaptiv, analytisch stark und bringen eine unkonventionelle Denkweise mit, die gerade in komplexen und dynamischen Umfeldern von hohem Wert ist. Unternehmen, die in ihre Entwicklung investieren, gewinnen loyale und leistungsfähige Mitarbeiter:innen, die einen wertvollen Beitrag leisten können, den andere Fachrichtungen oft nicht bieten.

Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten 1 – Brotgelehrte
Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten 2 – Brotgelehrte

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