Im ersten Teil dieser Blogreihe haben wir uns mit einigen grundlegenden Informationen zu den Geisteswissenschaften befasst. In diesem zweiten Teil möchte ich einen tieferen Blick darauf werfen, welchen konkreten Eigenschaften Geisteswissenschaftler:innen häufig mitbringen, und wie Unternehmen sie adressieren und integrieren können.

Geisteswissenschaftler:innen zeichnen sich in der Regel durch eine außergewöhnlich hohe intrinsische Motivation aus. Anders als in vielen anderen Fachbereichen wählen sie ihr Studienfach oft ausschließlich aus einem tiefen Interesse an den Inhalten. Diese intrinsische Motivation führt zu einem besonders starken persönlichen Engagement, da die Themen ihrer Studien und späteren beruflichen Tätigkeiten oft ihre Leidenschaft widerspiegeln.

In einem Unternehmen kann diese Leidenschaft ein echter Gewinn sein. Geisteswissenschaftler:innen sind oft bereit, weit über das geforderte Maß hinauszugehen, um eine Fragestellung zu durchdringen oder ein Problem zu lösen. Sie setzen sich gerne intensiv mit komplexen Sachverhalten auseinander und scheuen sich nicht davor, auch langwierige oder schwierige Aufgaben zu übernehmen.

Es bedeutet aber auch, dass sie mitunter mit der Motivation kämpfen, wenn sie keine Verbindung zu den Inhalten ihrer Arbeit aufbauen können. Anreize wie der Aufstieg in eine Position mit mehr Status und Einkommen funktionieren oft nicht, insbesondere dann, wenn sie zulasten der inhaltlichen Arbeit gehen.

Es gibt keine/kaum Standard-Curricula der Fächer. Entsprechend ist das fachliche Profil einer Historikerin aus Bielefeld anders als das einer Historikerin aus Heidelberg. Vielleicht ähnelt das Kompetenzprofil aus Bielefeld sogar eher dem eines Soziologen aus Frankfurt und das aus Heidelberg eher dem eines Altphilologen aus Münster.

In den Geisteswissenschaften lernen Studierende oft durch verschiedene Disziplinen hindurch. Eine Philosophiestudentin kann tief in Fragen von Ethik und Wirtschaft eintauchen, ein Geschichtsstudent dank Archivforschung mit verwaltungswissenschaftlichen Fragen vertraut sein. Diese Kombination von unterschiedlichsten Herangehensweisen, Theorien und Methoden führt zu der Fähigkeit, unerschrocken auf zunächst fachfremde Fragestellungen zu reagieren und sich schnell einzuarbeiten. Sie bringen oft unkonventionelle, verbindende Denkansätze mit, die in standardisierten Fächern selten sind.

Aber WIE machen sie das mit dem schnellen Einarbeiten in Themen, die gestern noch völlig fremd waren? Eine der herausragendsten Eigenschaften von (sehr guten) Geisteswissenschaftler:innen ist ihre hohe Adaptionsfähigkeit. Sie ist das Ergebnis eines Studiums, das sie regelmäßig dazu zwingt, sich mit unterschiedlichen Disziplinen, Theorien und Perspektiven auseinanderzusetzen. Meiner Erfahrung nach gehört dazu auch die mentale Disziplin, sich nicht von der „Meinung“ hinfort tragen zu lassen, sondern erst zu beobachten, dann zu deuten und mit Vorsicht zu bewerten. Auch die Bereitschaft eines grundsätzlich offenen, unlimitierten Denkens gehört dazu – für Außenstehende ist dies mitunter verunsichernd, sie hätten gern mehr „Meinung“. Und auch einige Geisteswissenschaftler:innen tun sich damit schwer und bevorzugen Routinen und klare Kriterien. Diejenigen aber, die in dieser Offenheit denken und arbeiten können, sind wertvolle Teammitglieder und Führungskräfte in dynamischen Umfeldern, bei komplexen Projekten oder in innovativen bis disruptiven Projekten.

Geisteswissenschaftler:innen werden oft kommunikative Fähigkeiten zugeschrieben – mit Recht! Sie verbringen einen Großteil ihres Studiums damit, komplexe Gedanken schriftlich und mündlich zu formulieren, Argumente zu analysieren und schlüssig darzustellen. Die Auseinandersetzung mit umfangreichen Texten, die Analyse vielschichtiger Fragestellungen und die Fähigkeit, kritische Diskussionen zu führen, schult sie in der Kommunikation auf hohem Niveau. Dies ist für viele berufliche Kontexte relevant: (interne) Unternehmenskommunikation, Marketing, Kundenkontakt, Beratung, Personalentwicklung und Schulung.
Allerdings handelt es sich oft um intuitive Stärken. Sie „schwingen“ in den diskursorientierten Praktiken des Studiums mit und bilden ihre kommunikativen Fähigkeiten beiläufig aus und weiter – oder eben nicht. Viele reflektieren ihre Kommunikationsfähigkeit nicht und entwickeln sie auch nicht professionell weiter. Sie kennen Kommunikationsmodelle, aber nicht unbedingt das Handwerkszeug, das für die strategische Unternehmenskommunikation wichtig ist. Hier liegt Potenzial, das Unternehmen gezielt fördern könnten, und das Geisteswissenschaftler:innen bei der Berufsorientierung ergänzend zum Studium professionalisieren sollten.

Kritisches Denken ist eine Kernkompetenz, die Geisteswissenschaftler:innen bereits früh in ihrem Studium entwickeln. Sie werden darin geschult, Annahmen und Argumente zu hinterfragen, komplexe Sachverhalte zu analysieren und verschiedene Perspektiven auf ein Problem zu beleuchten. Diese Fähigkeit, systematisch und differenziert zu denken, ist eine ihrer großen Stärken und kann Unternehmen helfen, Herausforderungen aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Allerdings bringt diese kritische Herangehensweise nicht immer unmittelbar lösungsorientiertes Denken mit sich. Oft liegt der Fokus darauf, bestehende Strukturen und Überzeugungen zu hinterfragen, statt unmittelbar nach einer pragmatischen Lösung zu suchen. Doch gerade darin liegt ein wertvoller Beitrag zur Unternehmensentwicklung: Blinde Flecken werden identifiziert, Tabus adressiert, festgefahrene Denkmuster aufgebrochen. Dieser wertvolle Beitrag erfordert jedoch auch eine gewisse Balance: Geisteswissenschaftler:innen müssen lernen, ihre kritischen Überlegungen mit einer lösungsorientierten Haltung zu verbinden; andere Teammitglieder müssen aushalten, dass Prozesse mitunter verlangsamt werden, um zu nachhaltigeren und fundierteren Entscheidungen zu kommen.

In vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen studieren mehr Frauen als Männer. Auch der Anteil von Studierenden als erste Generation einer Familie ist vergleichsweise hoch, und der Anteil von Studierenden mit „Migrationshintergrund“ wächst bzw. war in den fremdsprachigen Philologien ohnehin immer sichtbar. Entsprechend findet nicht nur im Studium eine intensive Auseinandersetzung mit kulturellen, sozialen und historischen Themen statt; die Studierenden sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebensrealitäten oft ohnehin für Fragen von Diversität, Gleichstellung und Inklusion sensibilisiert. So sind sie in der Lage, Konflikte oder Missverständnisse, die durch kulturelle, geschlechtliche oder soziale Unterschiede entstehen, frühzeitig zu erkennen und zu thematisieren. Der reflektierte Umgang mit komplexen, oft widersprüchlichen Theorien und Meinungen ist fester Bestandteil ihres Studiums.

So können Geisteswissenschaftler:innen in hohem Maße zu einem diversitätsbewussten Arbeitsklima beitragen und diversitätsbezogene und interdisziplinäre Arbeitsweisen im Unternehmen stärken.

Wisst Ihr, womit ich richtig gescheitert bin? Mit der Idee, Geisteswissenschaftler:innen fachnahe digitale Berufsbilder nahe bringen zu wollen. Es dauerte nicht lang, bis eine Studentin ganz offen aussprach:

„Frau Menne, ich studiere Geschichte und Germanistik, weil ich die ganze digitale Dynamik eben nicht will und dachte, in diesen Fächern bleibe ich davon noch ein wenig verschont.“

Und ehe ich innerlich die Schublade „Einzelfall“ aufmachen konnte, stimmte die gesamte Arbeitsgruppe zu.

Viele Geisteswissenschaftler:innen entscheiden sich bewusst für ihre Fächer, weil sie alternative Wege der Wissensaneignung und Problemlösung suchen, die nicht primär auf mathematischen, technischen oder digitalen Methoden basieren. Sie möchten komplexe Fragen aus einem anderen Blickwinkel angehen und setzen dabei auf humanistische, kritische und postmoderne Ansätze. Dieser Wunsch, sich nicht den gängigen, technisch geprägten Lösungsmodellen anzupassen, führt zu einem besonderen Zugang zu Wissen und Problemlösung, der in vielen Unternehmen ein großer Gewinn sein kann – aber eben auch eine Störung, die es gut oder sogar strategisch zu adressieren gilt.

Geisteswissenschaftler:innen bringen eine Vielfalt an Kompetenzen und Denkansätzen mit, die Unternehmen oft nicht gut einschätzen können. Ihre intrinsische Motivation, Adaptionsfähigkeit, und die Fähigkeit, kritisch zu reflektieren, machen sie zu wertvollen Mitarbeitenden in einer Geschäftswelt, die zunehmend komplexer und dynamischer wird. Während Unternehmen häufig auf technische Expertise und standardisierte Lösungsansätze setzen, bieten sie frische Perspektiven, die auf diskursiver Methode, menschlicher Erfahrung und interdisziplinärem Denken beruhen.

Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten Teil 1 – Brotgelehrte

Was Unternehmen über Geisteswissenschaftler:innen wissen sollten Teil 3 – Brotgelehrte

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