Heute ist Wikipedia-Tag, denn am 15. Januar 2001 ging die Enzykopädie online. Gut, dass für die Brotgelehrte inzwischen auch Studentinnen schreiben, denn wäre es die Dozentin allein, hätte sie natürlich mit gerümpfter Nase über diesen Jahrestag hinweggeschaut und gesagt, früher wär’s doch auch ohne gegangen. Aber „früher“ ist vergangen, Wikipedia hat eine eigene (Rezeptions-)Geschichte. Anlass für Christina Wiemann, sich der Jubilarin zu widmen.
Das Internet macht’s möglich – dauerhaften Zugang zu Informationen, eine wichtige Basis für Wissensgenerierung in nahezu jedem Fachbereich, egal ob für private Zwecke oder in Arbeit und Studium. Doch die Unmengen an Informationen sind unmöglich alleine zu bewältigen und zu katalogisieren. Wie gut, dass es Onlineenzyklopädien wie Wikipedia gibt. Viele Kommiliton*innen nutzen Wikipedia gern für einen ersten Einblick ins Thema, egal ob für Referate oder Hausarbeiten, trotz mahnender Worte der Dozierenden wegen fehlender Wissenschaftlichkeit und Plagiatsanfälligkeit. Hier treffen sich zwei Welten, nämlich die analogen Lehre und die digitale „Mitmachwelt“. So stellt sich natürlich die Frage am heutigen Wikipediatag, inwieweit es gerechtfertigt ist, Wikipedia zu verteufeln und aus dem universitären Alltag zu verbannen. Natürlich hat Wikipedia seine Tücken. Also muss man wissen, welche es sind und wie man damit umgeht.
Deshalb möchte ich zunächst kurz die Arbeitsweise von Wikipedia erklären und erläutern. Anschließend soll die Kritik an Wikipedia genauer erläutert werden und diskutiert werden, in wie weit man es nutzen kann.
Wikipedia ist eine von Nutzern, also zumeist von Laien verfasste „Mitmach-Enzyklopädie“, in der jeder Lemmata hochladen und verändern kann. Die Autoren in Wikipedia agieren oft anonym. Im Gegensatz zu normalen Nachschlagewerken vertraut man bei Wikipedia der „Schwarmintelligenz“ und geht nach dem Prinzip vor: Mehr Leute wissen mehr als einer – ein Prinzip des Crowd Sourcing. Deshalb hat jeder die Möglichkeit, nach der Veröffentlichung Artikel zu verändern oder zu kommentieren.
Gern wird Wikipedia auch von Studierenden genutzt; egal, ob bei Referaten oder Hausarbeiten – hier finden sich hier schnell und knapp gebündelt alle wichtigen Informationen sowie manchmal sogar Literatur, die einen Anfangspunkt für die Recherche bilden kann. Trotz der Warnung vieler Dozenten findet Wikipedia somit doch oft den Weg in so manche Arbeitsprozesse für Referat oder Hausarbeit, auch wenn es nicht unmittelbar zitierfähig ist.
Doch ist die gängige Kritik noch tragbar? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Arbeiten des Historikers Peter Haber zu werfen, der Potential in Wikipedia sieht, da es Möglichkeiten bietet, die die klassische Recherche in einer Bibliothek nicht habe. Seine Studien zeigen gar eine erstaunliche Konformität von Wikipedia-Artikeln zu Lexikonartikeln des letzten Jahrhunderts. Doch das Prinzip, das nach der Crowd-Sourcing-Idee für Qualität sorgen würde, nämlich die Diskussions- und Änderungsfunktion, ist leider den meisten Nutzern unbekannt, sodass es leider nur eine recht kleine aktive (und mitunter auch ausschließende) Autorenschar gibt. Trotzdem stellt Haber die Frage, in wie weit dieses Modell Vorbildcharakter haben kann für geschichtswissenschaftliche Arbeits- und Darstellungsformen. Leider kann ich den Gedanken Habers nicht ganz teilen, denn was mir in diesem System fehlt, ist eine Kontrollinstanz. Wer sichert im Crowd Sourcing die Qualität?
Obwohl es gute und valide Artikel gibt, sei es, so Haber, schwierig, sich ein generelles Urteil zu bilden, da die Artikel zu heterogen sind. Oft sei es nur eine Faktenanhäufung. Deshalb riefen Historiker wie Roy Rosenzweig zur Mitarbeit auf, andere, etwa Frank Schulenberg, beteiligen sich aktiv und bearbeiten Artikel oder arbeiten als Angestellte für die Wikimedia Foundation.
Haber schlägt einige interessante Anwendungsbereiche für Wikipedia vor. Zum einen biete es aktuelle und ermögliche multiperspektivische Ansichten zu Themen. Deshalb lohne es sich durchaus, einmal die Artikel in unterschiedlichen Sprachen in ihrer Wortwahl und Darstellung zu vergleichen, da sich hier Aussagen zur Mentalität, Ressentiments oder Emotionaliät einiger historischer Darstellungen zeigen. All dies sei nicht möglich mit einem normalen Nachschlagewerk. Haber räumt aber ein, dass Wikipedia sich nicht für einen ersten Einblick in ein Thema anbete, das es viel zu anspruchsvoll sei, kooperativ in ein Thema ausreichend einzuführen. Verwendbar seien aber trotzdem ältere Artikel, die eine reichhaltige Versionen- und Diskussionsgeschichte aufweisen.
Die Arbeiten Habers plädieren dafür, dass Wikipedia aus Lehre und Universität nicht ausgeschlossen werden sollte, da sich nicht nur neue interessante Nutzungsbereiche damit eröffnen, sondern auch wichtige Kompetenzen trainiert werden. So zeigt Hodel, dass nicht nur die Analyse von Informationen wichtig sei sondern auch deren Darstellung.
Zur Erlangung einer guten Mischung aus Fach- und Medienkompetenz schlägt Haber einen Arbeitsprozess mit vier Phasen vor.
1. So wird Wikipedia zunächst als Wikisystem analysiert, die Zielsetzung des Projektes, sowie die Motivation der Mitarbeitenden erläutert.
2. In der zweiten Phase sollen eigene Wikipedia-Artikel erstellt werden und die damit verbundenen Erfahrungen notiert werden.
3. Im nächsten Schritt sollen nun eigene historische Darstellungen kollaborativ, in Form von Essays, Dialogen oder Erklärungen erstellt werden.
4. Abschließend wird das Projekt mit einer Rückschau beendet. Ziel ist eine Reflexion historischer Sinnbildung und eine Reflexion von Entstehungsprozessen von historiographischen Texten.
Abschließend zeigt sich, dass Wikipedia doch mehr kann als zunächst vermutet. Ohne eine Verbindung von Fach- und Methodenkompetenz ist jedoch ein reflektierter Umgang schwer. Deshalb soll hier der Appell an die Lehre erfolgen, die Herausforderungen von Wikipedia im Hinterkopf zu haben, aber vor allem das Nutzungspotential zu sehen und sich konstruktiv und kritisch in crowdbasierte Wissensproduktionen einzubringen.
Referenzen:
Haber, Peter/Hodel, Jan: Wikipedia und die Geschichtswissenschaft. Eine Forschungsskizze, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (59/2009), Zürich.
Haber, Peter: Digital Past, Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011.
Hodel, Jan: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente; wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden, Bern 2013.
Hodel, Jan/Haber, Peter: Das kollaborative Schreiben von Geschichte als Lernprozess. Eigenheiten und Potenzial von Wiki-Systemen und Wikipedia, in: Merkt, Marianne/Mayberger, Kristin/Schulmeister, Rolf/Sommer, Angela/Berk, Ivo van den: Studieren neu erfinden-Hochschule neu denken, Münster 2007
Wanner, Peter: Geschichte 2.0, Geschichte und Wissenschaft im digitalen Zeitalter, Heilbronn 2007.