Dieser Beitrag hat als Text in der Rubrik „Was wir lesen“ angefangen, und hat sich aber letztendlich in eine andere Richtung entwickelt: Mareike hat vorgeschlagen, unseren Austausch über den Text und insbesondere über die Inhalte des Buches sichtbar zu machen. Dieser Beitrag ist demnach kein Interview, sondern eine Mischform aus Dialog und Rezension.
Sprache und Sein – Bücher – Hanser Literaturverlage (hanser-literaturverlage.de)
Kübra Gümüşay (kubragumusay.com)
Wie wir lesen – Im Dialog. Sprache und Sein von Kübra Gümüsay.
Anna: Sprache und Sein handelt von Sprache und Freiheit: Wie können wir sprachlich wir selbst sein, uns sprachlich ausdrücken, wenn die Sprache, die wir gelernt haben, uns nicht als Subjekte sprechen lässt, sondern vielmehr als Objekte benennt? Gümüsay beschreibt diesen Sachverhalt mit einer Metapher, die eindrücklich dem Buch zugrunde liegenden Leitgedanken darstellt:
„Lassen Sie uns Sprache als einen Ort denken. Als ein ungeheuer großes Museum […]“ (53). Das Museum beherbergt alles, was man sich nur vorstellen kann: Lebewesen, Objekte, Pflanzen, Ideen, Theorien, Gedanken, Gefühle, Fantasien und auch Träume. Es gibt zwei Arten von Menschen, die in dem Museum sind: Die Unbenannten können frei durch das Museum laufen, sie haben keine Grenzen, sie finden keine verschlossenen Türen oder leere Korridore – sie sind die Norm, der Standard, denn das Museum wurde nach ihren Vorstellungen und Normen gebaut. Sie sehen sich nicht selbst in den Ausstellungsräumen, denn sie selbst kuratieren das Museum – sie brauchen keinen Ausstellungsraum, der ihnen erklärt, wer sie selbst sind. Das wissen sie schließlich. Da die Unbenannten das Museum kuratieren, sind die gleichzeitig auch Benennende: Sie ordnen und benennen alle Dinge, die sie in das Museum aufgenommen haben, nach ihren Vorstellungen und ihrem Wissenstand. Und das zeigt auch schon die Krux an der Sache: Unbenannte/ Benennende, die durch das Museum laufen, wissen nicht, dass es von Unbenannten/ Benennenden kuratiert wurde – sie wissen nicht, dass ihre Sicht auf Dinge zu blicken, sie zu ordnen und zu kategorisieren. Sie könnten sich frei und unbeschwert durch das Museum bewegen, weil alles und jedes ihre Sicht auf die Welt bestätigt. Alles macht Sinn.
Mareike: Das Museum als europäisches Konzept dient zunächst der Selbstvergewisserung. Museen wurden errichtet, um sich selbst zu erkennen und zu erinnern, nicht das Fremde. Kuratieren geht heute mit vielen Reflexionsschleifen einher und kennt auch viele Methoden, vom Sichtbarmachen über das Wiedererkennen und Kombinieren zum Verfremden. Ich finde die Metapher darum schwierig. Natürlich wissen Kuratierende, dass sie es sind, die kuratieren. Sie wählen ja sehr bewusst zwischen verschiedenen möglichen Sichtweisen und Ordnungen aus. Dasselbe Objekt kann in verschiedenen Ausstellungen mit unterschiedlicher Bedeutung gezeigt werden.
Anna: Da kann ich nicht ganz mitgehen… ist nicht oft beides zugleich möglich, das Museum als Ort des Eigenen und als Ort des Fremden – oder sogar gewollt oder unumgänglich? Wenn ich an Diskussionen um Raubkunst/ Kolonialkunst denke, verwischen die Grenzen, oder? Es gibt doch immer eine Abgrenzung und Festschreibung, wenn man sich kuratierte Gegenstände anguckt. Indem ich mir ägyptische Ausgrabungsgegenstände angucke (das Fremde), grenze ich mich selbst ab (das Eigene).
Mareike: Ich meinte den Ursprung, das museion, ist ein Musentempel, das der kultureigenen Transzendenz gewidmet ist. Bis ca. 1790 sind sie Erkenntnisorte, kulturell Fremdes ist sehr rar und wird unter „Exotika“ geführt, interessanterweise unbenannt.
Erst unter Napoleon haben wir diese Raubkunst/Kuratieren als Aneignen, da füllte sich der (leer gewordene, da vom König verlassene) Louvre. In der Tat wurden spätestens dann systematisch fremde Objekte benannt und in Systemen verortet, mit Bedeutung belegt.
Anna: Es gibt nach Gümüsay neben den Kurator*innen noch eine andere Gruppe, die das Museum betritt: die Benannten. Die Benannten sind anders, sie sind den Unbenannten fremd, und damit entsteht der Wunsch, die Benannten zu analysieren, und einzuordnen. Alles muss schön geordnet ins Museum passen, alles muss seinen Platz haben. Wenn eine ganze Gruppe an Menschen analysiert wird, auf Merkmale und Eigenschaften reduziert wird, die den Unbenannten nun einmal auffällt, „[d]as ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. In dem Menschen entmenschlicht werden.“ (54) Die Benannten leben fortan in den Ausstellungsräumen, in Glaskästen, mit einer Plakette, die den Unbenannten genau erzählt, wer da in dem Kasten sitzt: Das ist sie, die muslimische Frau. Das ist er, der homosexuelle trans Mann. Das ist sie, die schwarze feministische Frau. „Individualität wird ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten, die sie betrachten, erscheint das als normal, obwohl für sie selbst Individualität die Grundlage ihres Seins ist.“ (55)
Mareike: Was wollen die Benannten denn im Museum? Und warum kommen sie nicht wieder raus?
Anna: Ich glaube, in dieser Metapher kommt niemand mehr aus dem Museum raus, wir betreten es, sobald wir sprechen lernen. Man könnte verschiedene Sprachen auch sicherlich als unterschiedliche Museen verstehen, aber dann wäre es, eher so, dass Menschen gleichzeitig in verschiedenen Museen existieren, und nicht von einem in ein anderes gehen. Ich existiere im Museum “Deutsch”, und gleichzeitig auch im Museum “Englisch”. Ich bin dieselbe Person, aber nehme das Museum und die Welt unterschiedlich war. Im deutschen Museum gendere ich mit Stern, weil ich das richtig und wichtig finde. Im englischen Museum gibt es keinen Stern, weil es kein generisches Maskulinum gibt. Die Vorurteile sind aber dieselben. Die drücken sich aber jeweils anders aus, weil sie einen anderen Stellenwert in den Sprachen einnehmen.
Gümüsay schreibt in Sprache und Sein immer wieder über persönliche Momente und Situationen, in denen sie selbst nur als die muslimische Frau wahrgenommen wurde, oder auch als die kopftuchtragende Frau. Die Tatsache, dass sie in ihren Kolumnen und TED-Talks, in ihren Fernsehauftritten und Essays über eine Vielzahl an Themen schrieb und sprach, darunter Feminismus, Wirtschaftspolitik, die Liebe etc., passte für viele Menschen nicht zu ihrer Kategorisierung: eine Feministin, die ein Kopftuch trägt? Gümüsay schreibt darüber, wie ermüdend, auslaugend, beleidigend und unerhört es für sie war, immer wieder ihre Religion, ihre Weiblichkeit, ihren Intellekt, ihr Deutsch-Sein, ihr Türkisch-Sein, ihr Feministin-Sein etc. erklären zu müssen.
Mareike: Das mag lästig sein, aber ist es nicht auch einfach Teil des Geschäfts? Wenn ich mich für ein bestimmtes Thema als meinen Beitrag zum öffentlichen Diskurs entscheide, dann gehört es doch zur „Arbeit“, dieses Thema immer wieder zu erklären. Ein Wirtschaftspolitiker erklärt immer wieder Wirtschaftspolitik (und stellt sich den Fragen nach Widersprüchen in Wirtschaft und Ethik etc.), eine Umweltaktivistin erklärt immer wieder Umweltstatements (und wird immer wieder gefragt, ob sie eigentlich noch Auto fahre/Fleisch esse/wasweißich), und eine Feministin muss eben immer wieder ihren Standpunkt erklären und verteidigen.
Anna: Ich habe es so verstanden, dass sie überhaupt nicht dazu vordringen kann, als Vertreterin ihres Themas aufzutreten, z.B. als Politikwissenschaftlerin. Menschen gucken sich an einer einzigen Sache fest, dem Kopftuch und ihrem Feminismus. Es geht, glaube ich, auch darum, nicht immer wieder die gleichen Punkte durchzukauen, weil man sonst nur Wasser tritt und nicht vorankommt.
Mareike: Verstehe vielleicht. Wenn wir Carsten Linnemann in jedem Gespräch nur nach seiner Brille fragen, gleichgültig, was auf der wirtschaftspolitischen Agenda steht, wäre er sicherlich unzufrieden; „Herr Linnemann, was denken Sie als Brillenträger und Mann dazu?“
Anna: Gümüsay ist Politikwissenschaftlerin und Rednerin, sie referiert zu den Themen Internet, Politik, Feminismus und Rassismus (vgl. https://kubragumusay.com/about/ ) – und doch wurde sie in vielen Debatten, bei verschiedenen Auftritten und Shows auf bestimmte Merkmale reduziert, ihre äußere Erscheinung etwa, die scheinbar in Kontrast zu „dem (einen) Feminismus“ stand. Sie wurde nicht als Mensch gesehen, sondern als Klischee, als wandelndes Stereotyp. Und dies hat Einfluss auf das Wesen eines Menschen, auf sein Sein: „Verzerrte Fremdbilder werden zu Selbstbildern und definieren den Horizont ihrer Möglichkeiten. Die Grenzen ihres Seins.“ (80)
Mareike: Da hat sie sehr recht. Zugleich besteht die Kompetenz darin, diese Verzerrungen zu nutzen, wo sie nützlich sind bzw. offenzulegen und zu überwinden, wo sie hinderlich sind. Das gilt ebenfalls nicht nur für Feministinnen mit Kopftuch.
Anna: Ich stimme Dir voll und ganz zu! An dieser Stelle geht sie diesen Schritt nicht weiter.
Gümüsay plädiert dafür, marginalisierten Menschen den Weg für die Auslebung ihrer eigenen Individualität zu ebnen: „Deshalb darf nicht noch eine Generation junger Menschen zu Pressesprecher*innen ihrer zugewiesenen Kategorie degenerieren.“ (90) Ihre Zielsetzung lautet deshalb, Missstände nicht das eigene Leben diktieren zu lassen, sich nicht an diese Missstände zu gewöhnen und sich solidarisch gegenüber Menschen zu verhalten, die nicht das Privileg haben ihnen zu entkommen (91). Sie führt dazu auch den Begriff der „realen Utopien“ von dem Soziologen Erik Olin Wright ein: „Wenn wir uns von dem Gedanken verabschieden, Ideale müssten überall und auf einmal realisiert werden, können wir uns die Freiheit schaffen, jetzt schon Räume zu öffnen, in denen wir Utopien, so gut es geht, ausprobieren.“ (173)
Mareike: Hier könnten wir fragen: Was an dieser Dynamik ist für marginalisierte Menschen anders als für majorisierte Menschen? In meiner Erfahrung sind es
1. Die Emanzipation. Raus aus der Opferrolle. Bestimmen eigener Ziele. Auch die realen Utopien – es braucht ja erstmal Bilder. Das ist Bildung.
2. Erlernen der Regeln im Wirkungsfeld, nicht im Widerstand, sondern aus ernsthaftem Interesse an Regeln. Phänomenologisch. Das ist auch Bildung.
3. Identifikation der Stellen, an denen sich Lücken, Unstimmigkeiten, Angriffsfläche bietet. Handlungsausrichtung. Das ist Strategie.
Anna: Einige konkrete Vorschläge, wie ein solcher Raum, eine „reale Utopie“ geschaffen werden kann, sind zum Beispiel, und vielleicht für einige Leser*innen überaschenderweise, die Nicht-Teilnahme an bestimmten Diskussionen, „Schaukämpfen“, die darauf abzielen rassistische, sexistische, homophobe etc. Aussagen zu provozieren – Aussagen, die die Fronten verhärten, und niemanden zu einem wirklichen Austausch ermutigen (103). Gümüsay beschreibt in Sprache und Sein, wie sie erst lernen musste, solche „Schaukämpfe“ als das wahrzunehmen, was sie sind, nämlich Spiele der Unbenannten: „Weil diese Diskurse, in denen die Existenzberechtigung von Menschen verhandelt werden“ nicht bloß Diskurse sind, „[…] ein Wort ist nie nur ein Wort. Jedes Wort hat Wirkung. Menschen verändern sich durch die Worte, mit denen wir sie beschreiben. Sie werden zu dem, was ihnen zugeschrieben wird.“ (103) Zurecht werden also z.B. Talkshow-Hosts kritisiert, wenn sie bestimmte populäre Personen (Politiker*innen, Autor*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Satiriker*innen etc.) in ihre Shows einladen, die Hass als bloße „Meinung“ beschreiben: „Wir müssen Menschenfeindlichkeit in ihre Schranken weisen. Wir dürfen sie nicht dulden und zu ‚Meinungen‘ erheben, die neue Impulse in die Debatte bringen, sondern müssen sie benennen: Rassismus, Extremismus. Menschenfeindlichkeit. Faschismus. Hass ist keine Meinung.“ (108)
Und Rassismus, Faschismus, Sexismus etc. wird in unseren Wörtern, unserer Sprache gespiegelt, wenn wir bestimmte Wörter unreflektiert übernehmen, dazu gehören Katastrophen-Metaphern wie „Flüchtlingswelle“, verschwörungstheoretische Begriffe wie „Lügenpresse“ oder auch Wortneuschöpfungen wie „Sprachpolizei“, „Tugendterror“, „rapefugees“ und altbekannte Wörter, die durch rechte Ideologien eine neue Bedeutung erhalten haben, wie das Wort „Gutmensch“ (125). Solche Begriffe zwingen uns, die Sprechenden, die Welt aus der Perspektive rechter Ideologie zu betrachten. Und das bedeutet auch, bewusstes Nichtverwenden rechter Begriffe ist Widerstand.
Mareike: Das könnte als Anknüpfung Sternbergers „Wörterbuch des Unmenschen“ gelesen werden (Macht und Geschichte der Wörter | Zeithistorische Forschungen (zeithistorische-forschungen.de).
Anna: Das führt uns zur Frage: Wie können wir frei sprechen? Wir können nicht frei sprechen, wenn die eigene Menschlichkeit angezweifelt, diskreditiert, und verweigert wird. Es muss selbstverständlich sein, Sprechenden als Individuen zu begegnen. Für (mehrfach) marginalisierte Menschen bedeutet frei sprechen auch, so zu sprechen als sei die eigene Perspektive jede*r Zuhörer*in zugänglich. Gümüsay nennt dies die „Emanzipation von einer Sprache, die uns nicht vorsieht. Indem wir sie verändern, anstatt uns zu erklären, indem wir sie anders nutzen, um in ihr zu sein.“ (195)
Das letzte Kapitel „Ein neues Sprechen“ wird mich noch lange beschäftigen, auch, weil ich das Gefühl habe, dass ich andauernd und in den unterschiedlichsten Medien über „die Debattenkultur“ und „Cancel Culture“ und Aussagen wie „das wird ja man noch sagen dürfen“ höre. Ich kann die Artikel gar nicht mehr zählen, in denen eine Weiße Person sich darüber beklagt, dass er*sie jetzt auf bestimmte Wörter, Redewendungen, Aussagen und deren diskriminierende Eigenschaften und Bedeutung hingewiesen wird, obwohl er*sie persönlich ja findet, dass das alles Quatsch sei – die Menschen sind einfach so empfindlich heutzutage. Bonus-Punkte, wenn die Person aus dem linken Feuilleton bekannt ist. In „Ein neues Sprechen“ geht es in erster Linie darum, wie wir Orte gestalten können, „in denen wir [gemeinsam] denken können – nicht um zu demonstrieren, wie toll wir sind und wie viel wir wissen, sondern wie viel wir nicht wissen, aber erörtern möchten.“ (176) An solchen Orten wird nicht zum tausendsten Mal über das N-Wort gesprochen, sondern über die eigene Fallibilität und den gemeinsamen Wunsch, eine wirklich pluralistische Gesellschaft aufzubauen – und keine Illusion von Pluralität zuzulassen (168, 176).
Mareike: Was folgt daraus? Sollen die Weißen Personen einfach damit aufhören? Was ist ihre Rolle in dem Prozess?
Anna: Die einfache Antwort wäre sicherlich, einmal hinsetzen bitte und Privilegien reflektieren. Das ist einfacher gesagt als getan. Zuallererst muss einmal die Bereitschaft da sein, sich hinzusetzen, und höchstwahrscheinlich auch Unwohlsein auszuhalten. Über sich selbst und andere, über die Gemeinschaft, in der wir mit Menschen leben nachzudenken, erfordert einen gewissen Grad an Bescheidenheit. Es geht darum, sich selbst und das, was man wahrnimmt, wie man etwas wahrnimmt und deren scheinbare Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Nichts ist selbstverständlich oder gar „natürlich“ – unsere Kultur, die sozialen Konstrukte, denen wir Bedeutung beimessen, wie wir sozialisiert werden, all das ist ein Filter, durch den wir die Welt wahrnehmen. Was folgt wiederum daraus? Wohl im besten Falle Neugierde, und Lernbereitschaft.
In „Ein neues Sprechen“ schreibt Gümüsay auch über Orte, digitale und analoge, aber vor allem digitale (darunter Twitter und Instagram), in denen Menschen, die sehr selbstbewusst die Grünen wählen, manche vielleicht die Linken, die sich selbst als Feminist*innen, vielleicht auch als Humanist*innen bezeichnen, die nur noch ganz selten bei H&M einkaufen gehen und die zwar Yoga machen, aber auch über die Appropriation von Yoga reden, mitunter genau jene Schaukämpfe austragen, die sie im Fernsehen kritisieren – in Form von Kommentaren. Kurz und bündig, manchmal länger, aber immer scheinbar auf den Punkt gebracht. Scheinbar ist hier das Stichwort, denn was diesen Kommentaren oftmals fehlt, ist eben genau jenes Bewusstsein über die eigene Fallibilität. Das Internet ist der Wilde Westen, aber es ist doch mitunter erschreckend, was sich Menschen rausnehmen. Ich schreibe hier bewusst nicht über rechte, misogyne, menschenfeindliche Trolle, über Menschen, die bewusst Hate Speech verbreiten, sondern über Menschen, die von sich selbst sagen, dass sie offen, tolerant und auf Vielfalt und Gleichberechtigung bedacht sind. Über Menschen also, die sich mit Rassismus, Sexismus, Ableismus etc. beschäftigen, weil sie ganz genau wissen, wie wichtig diese Themen sind – Wissen ist Macht. Aber dieses Wissen darf nicht zu einem Schild werden, mit dem man andere Menschen niederknüppelt. Menschen, die noch keine ganze Bibliothek an Büchern über den Klimawandel gelesen haben, die noch erst am Anfang stehen, die sich gerade das erste Mal mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen. Ja, auch das sind Privilegien. Aber Privilegien sind eben auch hartnäckig.
Twitter ist nicht dazu gemacht, eine „reale Utopie“ zu werden, dazu ist es zu schnell, zu voreingenommen, zu unübersichtlich. Ich bin trotzdem der Meinung, dass es sinnvoll sein kann, über Gümüsays Beobachtungen und Vorschläge im Rahmen des eigenen Verhaltens in den weiten Räumen des Internets nachzudenken und zu reflektieren: Was will ich wirklich sagen? Warum will ich es sagen? Um einen Autor, eine Künstlerin, ein Buch, ein Projekt zu namedroppen, damit ich selbst gut dastehe? Oder um wirklich eine Information weiterzugeben, die einem wichtig ist, und damit einen gemeinsamen Denkanstoß geben zu können – in der Terminologie Gümüsays? Ich möchte keineswegs selbstgefällig, oder gar arrogant rüberkommen. Die Menschen, über die ich da oben beschrieben habe? Das bin ich. Das sind meine Freund*innen, meine Kommiliton*innen. Ich spreche aus dieser Gruppe heraus, nicht über sie. Und natürlich ist auch hier Intersektionalität wichtig: Auch in „realen Utopien“ oder zumindest schon einmal in unseren eigenen Reflektionen über „reale Utopien“ ist es unabdingbar, sich selbst und andere Menschen ernst zu nehmen, die eigenen Erfahrungen und die Erfahrungen anderer. Auch hier gilt außerdem das Gebot von Ruhe, Self-Care und mental wellbeing. Hier kann gut ein Bogen geschlagen werden, zu Gümüsays Vorschlägen für gute, zielführende Debatten: keine Schaukämpfe mehr, wenn man das Gefühl hat, hier wird unfair gespielt, hier wird mit meiner Menschlichkeit gespielt, hier wird nicht auf meine Person, meine mentale Unversehrtheit geachtet.
Meine Empfehlung? Lest dieses Buch. Leiht es auch aus, lasst es auch schenken, kauft es, kauft es nochmal, dann habt ihr eins im Regal stehen, das schön aussieht und eins ist voller Post-Its und Markierungen. Das letzte Kapitel ist eine Aufforderung an seine Leser*innen. Wir müssen diesen Ort, diese „reale Utopie“ erst erschaffen, wir müssen diesen Ort zuallererst denken können – und dann können wir anfangen, unsere Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Für mich persönlich bedeutet das, Wörtern, (medialen) Debatten und Menschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken: Wer spricht hier wie über was oder wen? Ich möchte meine eigene Naivität hier nicht ausklammern; im Großen und Ganzen habe ich schon gedacht, dass ich das mache, schließlich habe ich selbst so viele Texte zu so vielen Themen gelesen – Sprache und Sein hat diese Texte nur noch einmal in ein weiteres Licht gerückt, ein weiterer Scheinwerfer, der die Texte aus einer weiteren Perspektive beleuchtet – und das ist wertvoll. Sprache und Sein ist ein Buch, das mich dazu angeregt hat, über alle Bücher noch einmal nachzudenken, die ich je gelesen habe.
Text: Anna Lemke. Im Dialog mit Mareike Menne.