Neun Wochen lang haben wir im Brotgelehrte-Team Stellenanzeigen aus Westfalen und Lippe gesammelt und um drei Sidekicks (Volontariate, Region Dresden und Soziale Arbeit) ergänzt. Was ist uns dabei aufgefallen? Ich ordne die Antwort nach drei Einwänden, die in eigentlich jedem Workshop mindestens einmal genannt werden:
- Stellenmangel
- Berufserfahrung
- Passgenauigkeit von Arbeitsmarkt und Tätigkeitsbeschreibungen der Studiengänge
Stellenmangel
„Es gibt ja nichts für Geisteswissenschaftler*innen, und erst recht nicht hier in der Provinz.“
Diesen Einwand können wir zumindest in dieser Pauschalität nicht bestätigen. Nachdem wir uns einmal „eingesucht“ hatten, lagen die neuen offenen Stellen in jeder Woche im mittleren zweistelligen Bereich. Es gibt also Stellen, und zwar sowohl im Öffentlichen Dienst als auch in privaten Unternehmen, sowohl Studi-Jobs als auch Einstiegsstellen und Führungspositionen, sowohl in den Universitätsstädten als auch in Lemgo, Salzkotten, Beckum – und all das unter „Corona-Marktbedingungen“. Diese Stellen werden ausgeschrieben und sind für Suchende auch ohne Abos und Mitgliedschaften sichtbar.
Wie kann dann dennoch der Eindruck entstehen, es gebe ja nichts? –
Ich glaube, das ist zu einem guten Stück ein mächtiges Narrativ und gehört zu unserer beruflichen Identität.
Ein zweiter Grund liegt in der Öffentlichkeit und der Platzierung der Ausschreibungen; mir scheint es eine Verbindungslücke zwischen Ausschreibungen und Suchenden insbesondere unter den Absolventinnen zu geben. Viele Kommiliton*innen suchen in den Hochschulen und über gängige Stellenportale nach offenen Stellen. Nur wenige Hochschuleinrichtungen sammeln und veröffentlichen jedoch, und es ist nicht so einfach Suchbegriffe zu finden, die auf allgemeinen Stellenportalen zielführend sind.
Ein dritter Grund erschließt sich, wenn wir von der Summe auf den Einzelfall schauen. Denn wenn eine Person mit einem BA in Philosophie nach einer fachlich einschlägigen Einstiegsstelle in der Region, doch nicht in der Uni und nicht in der Schule sucht, dann findet sich wirklich nicht viel (bis gar nichts), das diesen Kriterien entspricht. Die Lage entspannt sich erst, wenn die Suchhaltung nicht auf den 100prozentigen Match schaut, sondern formal passende Stellen versammelt und nach Schnittmengen forscht.
Berufserfahrung
„Es wird ja immer schon Erfahrung vorausgesetzt.“
Auch diesen Einwand können wir in dieser Pauschalität nicht bestätigen. Natürlich gibt es unter den versammelten Stellen solche, die drei bis fünf Jahre einschlägige Berufserfahrung mit Führungsverantwortung usw. verlangen oder wünschen. Das sind eben nicht die Stellen für Absolvent*innen. Darum haben wir ab der zweiten Ausgabe die Ausschreibungen entsprechend vorsortiert. Wenn für Einstiegsstellen Erfahrungen gewünscht oder verlangt werden, dann sind diese in der Regel tätigkeitsbezogen (z.B. schon mal ein ähnliches Projekt begleitet, z.B. als SHK) oder setzen erste berufliche Berührungen mit dem System voraus, also Praktika, Volontariate, freie Mitarbeit. Für ausgeschriebene Praktikumsplätze oder Studierendenjobs wurden in aller Regel keine beruflichen Vorerfahrungen verlangt. So ergibt sich ein „Musterwerdegang“ auch in den offenen Stellen Westfalens:
- einschlägiges Praktikum/einschlägiger Studierendenjob
- Volontariat/Trainee/wissenschaftliche Hilfskraft/wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in auf einer Qualifikationsstelle
- einschlägig beschriebene Stelle/Beamtenverhältnis, für die erste Berufserfahrungen (gemeint sind z.B. die beiden genannten Phasen) erforderlich sind
- Stellen mit Erfahrung, mit Führungsverantwortung, mit Projektverantwortung, mit Leitungsfunktion, mit repräsentativer Funktion, unbefristete Stellen/Beamtenverhältnisse.
Passgenauigkeit von Arbeitsmarkt und Tätigkeitsbeschreibungen der Studiengänge
„In der Studiengangsbeschreibung steht, damit kann ich ins Archiv/in den Verlag/politische Referentin werden. Aber in den Stellen, die Brotgelehrte versammelt hat, kommt das kaum vor.“
Stimmt. Diese Kluft zwischen den genannten Perspektiven in den Studiengangsbeschreibungen und den Ausschreibungen auf dem regionalen Arbeitsmarkt ist uns auch aufgefallen. Wir sind dem stichprobenartig nachgegangen und haben dabei festgestellt, dass einige Studiengänge ihre Jobaussichten in den vergangenen Jahren angepasst haben; für den BA Geschichtswissenschaft an der Uni Bielefeld etwa findet sich kein Hinweis mehr auf das Archiv, stattdessen auf Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, Forschung u.a. Das entspricht tatsächlich eher der Ausschreibungslage, die wir beobachtet haben. In Paderborn und Münster steht der Hinweis auf klassische Arbeitsmärkte in Archiv, Museen, Bibliotheken auch für den BA weiterhin. Die Ausschreibungen widersprechen dem; die (wenigen) Stellen für die staatlichen Archive sahen stets ein archivwissenschaftliches Studium oder eine Ausbildung vor. Die (wenigen) Ausschreibungen der Bibliotheken spezifizierten ihre Anforderungen ebenfalls: Bibliotheks- und Informationsmanagement, Bibliothekswesen, Library and Information Sciences, ggf. eine Ausbildung waren gefordert; fachwissenschaftliche Abschlüsse fanden wir nur einmal im Rahmen einer Referent*innenposition an einer Unibibliothek erwähnt.
Auch für die Verlage findet sich eigentlich kein fließender Übergang aus einem geisteswissenschaftlichen Studium, lediglich in Kombination mit anderen Fähigkeiten oder Qualifikationen (Bildbearbeitung, Herstellung, Buchhandel…) oder als Initiativbewerbung für den Stellenpool eines Verlagskonzerns haben wir etwas in die Liste aufgenommen. In dieser Woche kam ein Volontariat hinzu. Hoffnungsvoll haben wir wahrgenommen, dass es hier Verlage gibt, von denen wir nichts ahnten. Doch wir wurden rasch enttäuscht; diese Verlage suchten aufgrund ihrer fachlichen Spezialisierung Absolvent*innen aus anderen Disziplinen– Bauingenieurwesen oder Landwirtschaft etwa. Ausschreibungen für das Lektorat oder Übersetzungen in Festanstellung fanden wir nicht.
Ich gehe davon aus, dass es bei den literarischen und wissenschaftlichen Verlagen der Region zum einen ein verstärkter Trend zur Freiberuflichkeit und Honorartätigkeit gibt, zum anderen die Verlagshäuser – abgesehen von den Konzernen – so klein sind, dass es tatsächlich nur wenige Stellen gibt, die dann auch lange besetzt bleiben, dass es in der Region einfach relativ wenige unternehmerisch aufgestellte Verlage gibt und letztens Mitarbeiter*innen gezielt gesucht oder aus dem eigenen Praktikant*innen- oder Honorarkraftteam rekrutiert werden, statt die Arbeit einer Ausschreibung und der Antwort auf Bewerbungen auf sich zu nehmen. Hier scheint also frühzeitige und zielstrebige Netzwerkarbeit gefragt.
Fazit: Es ist wesentlich, die berufliche Profilierung und auch das Sprechen über affine regionale Tätigkeitsfelder auf das private und öffentliche Bildungswesen, auf Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und Medien auszurichten. Die Klassiker Archiv, Verlag, Bibliothek machen andere, teils auch nur zusätzliche Wege erforderlich. Perspektiven in Marketing, Werbung, Projektmanagement machen ebenfalls zusätzliche fachfremde Kompetenzen und Erfahrungen erforderlich und gehen darüber hinaus mit einem Kulturwechsel einher. Hier müssen wir unser Sprechen über Tätigkeitsfelder und Verbleib anpassen.