Ja, Sie sind richtig, immer noch ist das Thema dieses Blogs die Berufstätigkeit von Geisteswissenschaftlern. Viele B.A./M.A.-Absolventen führt es in „die Wirtschaft“, aber wir wissen wenig darüber, wo genau sie ihre Plätze finden, was sie da tun und was ihre Arbeit mit ihrem Studium zu tun hat. Wir binden noch weniger in die Lehre ein, so dass eine Absolventin dies gar als „Mythos“ bezeichnete.
In den letzten Wochen fiel mir in meiner Freizeit eine Kombination von „Geisteswissenschaftlern in der freien Wirtschaft“ ins Auge, der ich erst Wert beimaß, als ich sie häufiger antraf: eine Germanistin, die Heilpraktikerin für Psychotherapie ist, eine Historikerin, die Yogalehrerin ist, ein Germanist, der eine Yogaschule gründete. Auf der Suche nach der richtigen Internetadresse für den Historikerverband stellte ich zudem fest, dass er das gleiche Kürzel trägt wie der Verband Heilpraktiker Deutschlands: VHD. Erst dachte ich: Guter Stoff für etwas Satire. Dann trieb mich die Neugierde.
Für den heutigen Text ging ich diesen Impulsen einmal nach, unsystematisch, um einen Zugang zu finden zu diesem unerwarteten beruflichen Werdegang. Ich gab mir eine Viertelstunde für die Suchmaschinenabfrage nach „Historiker + Heilpraktiker“. Die Treffer waren etwas schwerfällig zu verwerten, weil die Kombination nicht nur Heilpraktiker und Historiker ausspuckte, sondern auch Heilpraktiker, die Historiker widerlegten, solche, die sich auf Forschungen von Historikern stützen oder Schriften von Historikern und anderen Weltweisen zitierten. Auf den ersten drei Trefferseiten fanden sich immerhin fünf Personen, die sowohl Historiker als auch Heilpraktiker sind. Die Trefferquote für „Germanist+Heilpraktiker“ war deutlich besser und brachte keine Fundstreuung wie die „Historiker-Anfrage“: acht auf der ersten Seite. Welche Zusammenhänge könnten zwischen Studienfach und Heilpraxis bestehen, oder haben die Damen und Herren lediglich das Pferd gewechselt?
Die Suchanfrage „Germanist+Yoga“ führte mich schnell weiter: Die Treffer sprudelten, ich hörte auf, zu zählen, sämtliche geisteswissenschaftlichen Disziplinen waren vertreten. Besonders häufig erschien auf den ersten drei Trefferseiten die Fachkombination Philosophie und Germanistik, und der Grund hierfür ist naheliegend: Yoga ist nicht Entspannungsgymnastik zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, sondern ein philosophisches System, zu dessen Praxis eben auch Geistes- (Meditation) und Körperübungen (Asanas) gehören. Ein Teilbereich des Yoga ist Svadhyaya: Selbststudium. So spekuliere ich nun, dass es vorwiegend zwei Wege zum Yoga für die Geisteswissenschaftler gab: entweder über einen Kurs mit Körperübungen, der dazu anregte, sich mit dem Hintergrund zu beschäftigen, damit zum Textstudium und in der Folge zur Ausbildung führte, oder über die Begegnung mit den yogischen Schriften im Kontext des (Universitäts)Studiums. Dass die meisten als Asana-Yogalehrer zu finden sind, wird mit der Notwendigkeit des Broterwerbs und mit unserem Gesundheitssystem zusammenhängen; Yoga hat derzeit Konjunktur und wird teilweise von den Krankenkassen bezuschusst – die Akquise fällt folglich leichter.
Ein Zugang zum Heilen, die Frage nach dem Wesen des Menschen aus Körper, Geist und Seele, die Tradition unserer Vorstellung von Gesundheit, Krankheit und Heilung können also Brücken zwischen diesen Bereichen sein. Die Ideen von Selbststudium und Erkenntnissuche sind natürlich Markenkerne der Geisteswissenschaft. In der Heilpraxis liegen zudem einige Methoden nahe an den Arbeitsweisen insbesondere der Sozialwissenschaften: Biographiearbeit, Familienaufstellungen oder systemische Therapie (die wiederum Verwandte im systemischen Coaching, der systemischen Sozialarbeit und der systemischen Unternehmensorganisation hat, siehe in diesem Zusammenhang auch Systemtheorie). Sämtlich handelt es sich hier um Methoden, die vom Heilpraktiker einen kompetenten, reflektierten, methodisch fundierten Umgang mit Sprache erfordern, etwa mit Paradoxien, Metaphern, Fragetechniken – gleichfalls Kernkompetenz von Geisteswissenschaftlerinnen.
In der Berufsorientierung während des Studiums werden Sie diese Brücken wohl nicht kennenlernen. Sie sind als Pfade in eine Berufstätigkeit kaum bekannt, geschweige denn systematisch befragt oder empirisch erfasst. Versuchen Sie mal, ein Praktikum in einem Yogastudio bei einem Dozenten als einschlägig anerkannt zu bekommen… Diese erste Versuchsbohrung zeigte mir jedoch, dass es Verbindungs- und Folgelinien zwischen einem Studium der Geschichte, Philosophie oder Germanistik und „Gesundheitsberufen“ gibt. Sie werden nicht selten gegangen, auch, wenn das Studium dafür keine Bedingung ist und auch, wenn häufig kostenpflichtige, lange, identitätserschütternde Ausbildungen im Anschluss an die akademische Ausbildung erforderlich sind.

Viele Links, auch zu den (unterschiedlichen) gesetzlichen Rahmenbedinungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, enthält der Wikipedia-Artikel „Heilpraktiker“.

[update 24.8.2013] Bei der Lektüre der Zeitschrift yoga aktuell No 80, S. 66ff stieß ich auf den Philosophen und Theologen Dr. Christoph Quarch, dessen Ziel nach Aussage auf seiner Website es ist, Philosophie als Lebenskunst zu vermitteln und in den Alltag zu bringen. Er betätigt sich in für Geisteswissenschaftler üblicher Weise, nämlich mit Schreiben, Unterrichten, Vortragen, ergänzt um Reisen. Quarch wurde nicht als Yogi vorgestellt, sondern als Philosoph, der mit der „Erotik des Betens“ ein Thema reflektiert, das auch im Yoga (ebenso wie in anderen spirituellen Praktiken) relevant ist.

[update 28.8.2013] Ah, ein Beleg für eine Schnittmenge von Yoga und Philosophiestudium: Eckard Wolz-Gottwald ist als Dozent an der philosophisch-theologischen Hochschule in Münster tätig. Er gründete die Yogaschule „Yoga-Akademie Münster-Osnabrück“ und verfasste einige Werke, die sich der Yogaphilosophie widmen, etwa den „Yoga-Philosophie-Atlas“ (Petersberg 2006) und „Yoga-Weisheit leben. Philosophische Übungen für die Praxis“ (Petersberg 2009). Bemerkenswert ist: Auf seiner Dozentenhomepage der PTH Münster steht eine Auswahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu denen diese Titel nicht zählen. Erneut zeigt sich, dass die wissenschaftliche Identität nicht unbedingt aus dem ganzen Menschen und seinem Schaffen besteht.

[update 20.9.2013] Werner Berning, Theologe und Physiotherapeut (klar, ein Physiotherapeut ist kein Heilpraktiker, aber die PT haben noch keinen eigenen Eintrag), berichtet von seinem Berufsweg, den Trennungen und den Verbindungen zwischen den beiden Berufen:

Werner Berning: Physiotherapie – das Land der unentdeckten Möglichkeiten. Vom Theologen zum Physiotherapeuten, in: Possél, René (Hg.): Berufe für Theologen, Darmstadt 2004, S. 115-126.

[update 7.101.13]: Über Dr. Patrick Broome, Psychologe und Yogalehrer, Inhaber des Jivamukti Yoga Studios Schwabing, berichtet Claudia Ziehm: Selbstständig arbeiten als Geistes- und Sozialwissenschaftler, Bielefeld 2003, S. 148-151. Diese drei Seiten sind gerade wegen des zeitlichen Abstands sehr interessant: War das Unternehmen 2003 in der Gründungsphase und berichtete Broome von seinen Plänen und Wünschen mit dem Studio, können Sie heute unschwer auf den Websites der Studios in Schwabing und München den Erfolg der Idee bewundern – und, unter „Lehrer“ weitere Absolventen unserer Disziplinen finden.

[update 21.10.2013]: Eine gute Einführung in die Philosophie des Yoga bietet

Anna Trökes: Die kleine [365 Seiten!] Yoga Philosophie. Grundlagen und Übungspraxis verstehen, München 2013.

Einen Überblick über verschiedene Traditionen, Schulen und Richtungen finden Sie in

Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland e.V. (Hg.): Der Weg des Yoga. Handbuch für Übende und Lehrende, Petersberg [7]2013.

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