Klar, als Studentenjob vielleicht. Doch dauerhaft? Habe ich dafür studiert? Und zumal schöngeistige Fächer?
Es gibt sicherlich einige Hürden auf dem Weg von einem Studium unserer Disziplinen zum Broterwerb im Einzelhandel, beginnend mit der Motivation für die Studienfächer über die erneute Weiterbildungsphase als Trainee bis hin zu einem anderen sozialen Kontext. Insbesondere letzterer war Gegenstand eines längeren Gesprächs, das ich mit einem Personalverantwortlichen aus dem Lebensmitteldiscountbereich führen konnte.
Sind GeisteswissenschaftlerInnen für Sie interessant?
Warum nicht? Es kommt uns nicht so sehr auf das Studienfach an. Unabhängig von der Disziplin können Hochschulabsolventen kommunizieren, planen und analysieren. Auf die Anforderungen der konkreten Tätigkeit bereiten wir Sie in unserem Trainee-Programm vor. Sie sollten allerdings Erfahrung im kaufmännischen Bereich mitbringen, z. B. im Verkauf gejobbt haben, und von sich sagen können, dass Ihnen das Verkaufen liegt. Wer damit Schwierigkeiten hat, wird bei uns sicherlich nicht glücklich. Und wer nicht bereit ist, auch mal anzupacken und z. B. ein Regal einzuräumen oder die Kasse zu besetzen, wird Schwierigkeiten haben, bei seinem Team anzukommen und es gut zu führen.
Ich weiß eigentlich gar nicht, warum sich nicht mehr Geisteswissenschaftler bei uns bewerben. Natürlich verlangen wir viel Engagement, aber wir bezahlen auch überdurchschnittlich viel. Wo bekommt ein Berufsanfänger schon über 60.000€ Jahresgehalt und einen Dienstwagen?
Vielleicht, weil sie sich nicht angesprochen fühlen. Wie immer scheint es um BWLer zu gehen. Und der Lebensmitteldiscount als Arbeitgeber hat keinen guten Ruf.
Das stimmt. Aber wir haben in den vergangenen Jahren viel gelernt und verändert. Wir zahlen übertarifliche Löhne, die Arbeitszeiten werden minutengenau erfasst. Überstunden werden sämtlich bezahlt. Das heißt nicht, dass jetzt alles gut ist. Aber wir arbeiten daran.
Dennoch: Für einen BWLer erwächst eine mögliche Anstellung bei Ihnen logisch aus Studieninhalten wie Vertrieb, Verkauf, Personalwesen. Für uns nicht. Und der soziale Kontext passt nicht, auch nicht mit den Statusobjekten Gehalt und Firmenwagen. Geisteswissenschaftler legen zumindest innerhalb der geisteswissenschaftlichen Peer Group vermutlich auf andere Statusobjekte Wert. Wenn ich mir als Absolvent ein Alumnitreffen in zehn Jahren vorstelle, sehe ich vor meinem geistigen Auge viele Lehrer, ein paar Professoren oder Wissenschaftler, ein paar Leute aus dem Kulturbereich, ein paar Gescheiterte und mich, die ich in dieser Runde zugeben muss, im Lebensmitteldiscount Personal zu führen. Es fiele mir leichter, Arbeitslosigkeit zuzugeben. Bisweilen wird ja schon der Einkauf bei Ihnen geheim gehalten.
Das ist aber eine seltsam elitäre Vorstellung. Von irgendwas, und zwar nicht von der öffentlichen Hand, müssen Sie sich doch ernähren! Sie können doch nicht Ihr Leben lang in geistigen Höhen schweben, keiner hat was davon, und der Rest der Gesellschaft sichert Sie mit ab. Ich kenne ein Beispiel von zwei Schwestern: Eine wurde in Philosophie in Frankreich promoviert, mit finanzieller Unterstützung ihrer Schwester, die als Führungskraft im Lebensmitteleinzelhandel tätig ist. Die Philosophin hält die Führungskraft für dumm, die Führungskraft die Philosophin für faul.
Das trifft‘s ganz gut. Aber besser als faul denn als käuflich gelten, und zumal bei einem Unternehmen, das keines unserer Werte vertritt: Kultur, Bildung, Individualität, Aufklärung, die Frage nach dem Wesen der Dinge, nach Erklärungen dafür, warum wir so leben, wie wir es tun.
Die Einstellung muss man sich leisten können. Aber sehen Sie: Ich weiß davon nichts. Ich bin kein ignoranter Mensch. Aber von diesen Dingen bekomme ich nicht viel mit. Ich weiß eigentlich nicht, was Geisteswissenschaftler tun und was ihr Beitrag zur Gesellschaft ist. Es wäre sinnvoll, hier mehr in die Öffentlichkeit zu treten. Ich finde das interessant. Es erklärt auch, dass womöglich viele Geisteswissenschaftler in Werten denken, die wir tatsächlich nicht ansprechen.
Wir leisten ganz praktisch Grundversorgung mit Lebensmitteln, auch in Gebieten, in denen kein anderer Anbieter mehr ist. Wir fordern viel ein, auch körperliche Arbeit oder Schichtdienst. Kein Tag ist wie der andere, es muss viel entschieden werden, mit Kunden und Mitarbeitern gesprochen, Lösungen gefunden und im Zweifel einfach angepackt werden. Die immer gegenwärtige Forderung nach „Flexibilität“ meint dies – gedankliche Beweglichkeit, ein schnelles Erfassen der Situation und eine angemessene Lösung. Wir honorieren dies mit Aufstiegsmöglichkeiten, Gehalt und Extras wie dem schon erwähnten Dienstwagen.
Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns wirklich in zwei verschiedenen Kulturen bewegen.
Und mit einer Beraterin für Aus- und Weiterbildung einer Drogeriekette:
Sie gelten ja als Traumarbeitgeber. Aber für uns?
Natürlich. Wenn Sie sich für den Handel und das Drogeriesortiment interessieren. Wenn Sie mit flachen Hierarchien leben können und bereit sind, sich aktiv einzubringen, auf jeder Ebene. Es gibt viele Entwicklungsmöglichkeiten. Sie sollten die verfolgen, die zu Ihnen passt, und dann schauen wir im Team, wie das sich in der Folge verändert. Schauen Sie: Ich habe nicht studiert. Ich konnte mich im Unternehmen entwickeln, und nun betreue ich zwei Gebiete mit ca. 45 Filialen in allen Fragen und Anforderungen für den Bereich der Aus- und Weiterbildung.
Sprechen Sie denn Geisteswissenschaftler gezielt an?
Nein. In unserem Ausbildungsangebot sehen Sie schnell, dass wir die klassischen Ausbildungen zum Drogisten durchführen, mit der Weiterbildungsmöglichkeit zum Handelsfachwirt und verschiedene Studienmöglichkeiten. Bei Geisteswissenschaftlern geht uns nicht um deren Wissenschaft, sondern um Persönlichkeit. Wenn jemand über ein Trainee-Programm zu uns kommt, dann ist die Persönlichkeitsbildung und -entfaltung ein großes Thema.
Darum gehört auch in der Alanus-Hochschule, wo ein BWL-Studium angeboten wird, Kunst zu den Studieninhalten. Es geht um kreatives Arbeiten, damit Offenheit Einzug halten kann und das Denken beweglich bleibt. Darum gibt es für unsere Auszubildenden auch Theater-Workshops. Bei uns wird auch das Lernen selbst zum Thema. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch kommunizieren, planen und analysieren lernen und entwickeln kann.
Wo könnten wir denn zum Einsatz kommen?
In den Filialen natürlich, mit allem, was dazu gehört, einschließlich Ware einräumen und kassieren. Oder in der Zentrale, wo auch alle übrigen Abteilungen vertreten sind, Sortimentsgestaltung, Marketing „im Dialog mit den Kunden“, das Controlling oder die Dienstleistungen für die technische Infrastruktur.
Wozu habe ich denn studiert, wenn ich wie alle anderen auch kassieren muss?
Wie wollen Sie sonst die Arbeit der anderen schätzen lernen? Wenn Sie nur in der Verwaltung oder im Management arbeiten und mit der Arbeit an der Basis nichts zu tun haben wollen, missverstehen Sie, dass eben diese Arbeit die Grundlage auch für Ihren Job ist. In den Filialen wird das Unternehmen präsentiert, die Mitarbeiter dort geben ihm ein Gesicht gegenüber den Kunden. Wie wollen Sie ein Verständnis entwickeln von den Bedürfnissen und Zuständen der Arbeit in der Filiale? Das ist nicht abstrakt, das geht nicht aus der Distanz.
Im Einzelhandel scheinen also gute Chancen für Absolventen auch nichtwirtschaftlicher Disziplinen zu liegen. Ich habe nur eine vielleicht schon etwas veraltete Begründung gefunden, hier zitiert aus dem Artikel „Karriere im Einzelhandel: Wer zupacken kann, steigt auf“ von K. Stricker und G. Lawecki (2007): „Der Branche fehlt es an Führungsnachwuchs. Einen Grund nennt Jürgen Panke, Handelsexperte und Senior-Berater bei Panke Personalconsulting: Im Handel mangelt es an qualifizierten Azubis, die später das Zeug zur Führungskraft haben. Deshalb findet eine Akademisierung statt.”
Zu den Handelsriesen in Deutschland zählen Edeka, Metro, Lidl, Aldi, Tengelmann und Rewe; Sie können auf deren Internetpräsenzen die Trainee-Programme finden. Zur Zeit ist etwa bei der Edeka die Bewerbung noch für April 2014 möglich. Für Österreich ging ich über die Plattform www.finden.at -> Jobs -> Trainee, und hatte prompt verschiedene Ausschreibungen vor mir, auf die sich durchaus Geisteswissenschaftler bewerben könnten. Allerdings gilt sowohl für die Ausschreibung bei der Edeka als auch bei den österreichischen Stellen, dass GeisteswissenschaftlerInnen nicht gezielt angesprochen werden. Ihre Bewerbung hat womöglich für beide Seiten etwas Unerwartetes. Doch entschuldigen Sie sich nicht dafür, freuen Sie sich vielmehr auf den Austausch und die Impulse, die Sie sich gegenseitig geben können. Welche das sind? Das liegt in Ihrer Persönlichkeit und in Ihrer Auffassung von Beruf und Studienfächern. Es könnte die Freude im Umgang mit Menschen und (bestimmten) Produkten sein; vielleicht verkaufen Sie gern, vielleicht ist Ihnen räumliche und finanzielle Stabilität wichtiger als die konkrete Tätigkeit, vielleicht haben Sie schon positive Erfahrungen bei einem Unternehmen gesammelt und wollen dies nun professionalisieren.
Weitere Informationen, Berichte, Analysen etwa:
Julia Wittenhagen: Trainee im Handel. Nur die ersten Monate im Kittel, FAZ.net, 16.07.2011
Ursula Kals/ Julia Löhr: Traineeprogramme Die Brutkästen der Wirtschaft, FAZ.net, 01.07.2011
Mit Ausschreibungen: Staufenbiel: Trainee-Programme: Handel, Marken- & Konsumgüterindustrie
http://trainee-gefluester.de/: Datenbank, Blog, Jobs, Erfahrungen…
Informationen und Broschüre zum Download bei Lidl
Offene Stellen bei der Drogeriekette dm und in der dm-Zentrale (dort sowohl Stellen als auch Praktika, die in der Beschreibung Geisteswissenschaftler ansprechen könnten)
Es gibt auch gedruckte Literatur; geben Sie „Trainee“ z. B. in die Suchmaske eines Onlinebuchhändlers Ihres Vertrauens ein. Ich mag Ihnen keinen Titel empfehlen und bin mir darüber hinaus unsicher, ob ein Buch nötig und sinnvoll ist. Ein Praktikum im Einzelhandel wäre dem Buch wohl vorzuziehen.