Im Arbeitsalltag treffe ich immer wieder auf Studierende, die mit ihrer Fachwahl zwar nicht so richtig unzufrieden sind, aber die die Frage umtreibt, ob sie sich richtig entschieden haben – oder ob da nicht etwas anderes möglich gewesen wäre, was besser gepasst hätte. Doch sie haben es eben nicht gewusst. Das ließe sich leicht als Variante der „Fear of missing out“ abtun. Es ließe sich auch leicht mit der unübersichtlichen Vielfalt von Studiengängen begründen, für deren Erfassung, Durchdringung bis zur schließlichen Auswahl man viel Zeit braucht; vielleicht mehr, als zwischen Schule und Studium zur Verfügung steht.

In diese Lücke zwischen Schule und Studium gehört auch der Erfahrungsbericht von Marlene Feger, Marlene Schmeel und Paul Benesch zu ihrem „WanderStudiumGenerale“ (Lernen in Begegnung, Studieren aus innerer Initiative, Stuttgart 2019). Die Autor*innen und zwei weitere junge Menschen fragten sich, wie individuelles, selbstbestimmtes, unverschultes Lernen mit selbstgewählten Dozierenden aussehen kann. In vier Monaten nach den Abitur reisten sie zu elf Dozierenden in acht Städten in Deutschland und in den Niederlanden. Auswahlkriterium war nicht die unmittelbare Übertragung der Begegnung in die Studienimmatrikulation. Sie wollten individuellen Eigeninteressen nachgehen. So führte ihr Wanderstudium sie z.B. zu einer Figurentheaterregisseurin, einem Wirtschaftsprofessor, einem Philosophen, einem Physiker, einem Arzt. Sie blieben zwei bis fünfzehn Tage und studierten mit ihren Dozierenden teils in Gesprächen und Textarbeit, teils in praktischer Anwendung und Übung. Finanziert wurde diese Reise aus eigenen Mitteln, mit Unterstützung aus dem privaten Umfeld und mit Straßenmusik.

Und, hat sich das WanderStudium für die Teilnehmer*innen gelohnt? In individuellen Reflexionen am Ende des Buches beziehen sie Stellung. Das Fazit ist dabei nicht unbedingt ein „hard fact“ im Sinne einer klaren Studien- oder Berufswahl. Die Autor*innen beschreiben ihr Reifen in Mündigkeit, Offenheit, Dankbarkeit, sie benennen das Gefühl, bestärkt und mutig aus dem Prozess hervorgegangen zu sein. Sie betonen den Wert der persönlichen Beziehung zu den Dozierenden, die ihnen ihre Zeit gewidmet und sie mit Wissen und Erfahrung beschenkt haben. Sie schätzen die selbstgeschaffene Erfahrung, vor dem zielgerichteten, „vertikalen“ Studium (oder der Ausbildung) den Blick noch einmal „auf die Horizontale“ (S. 113) zu richten und in verschiedene Fachrichtungen einzusteigen.

Lohnt sich die Lektüre? Ich habe von dem Buch profitiert – es war schnell gelesen, doch nun hängen mir einige inspirierende Fragen seit mehr als drei Monaten nach.

Dazu gehört zum einen der Aspekt „Mündigkeit“. Ich beobachtete durchaus, dass der Umgang mit Mündigkeit, auch die Verweigerung von Mündigkeit und das Verharren im Kindlichen zeitgeistig sind. Ganz unmündig entwickelte ich daraus für mich aber nicht die Aufgabe, den mir anvertrauten Lernenden zu Mündigkeit zu verhelfen bzw. sie dazu zu ermutigen und ihnen auch den Raum zu geben, mündig zum gemeinsamen Lernen beizutragen.

Zum anderen bewegte mich der Aspekt von Ungewissheit und Zukunftsangst. Im Studium der Geschichtswissenschaft begegnen mir ganz unterschiedliche Strategien, sich nicht mit Zukunft befassen zu müssen; ganz einfach einerseits in der Rückwärtswende, ganz alltagskulturell in Retrotrend und Nostalgie, ganz life-coaching-affin in der Allgegenwart von „Achtsamkeit“. Ich war überrascht, an mir selbst zu beobachten, wie schwer mir das positive, optimistische überzeitliche Denken auch unter Einbezug der Zukunft fällt. Dieser Verzicht auf eine gestaltete Zukunft wirkt sich auf Lebensqualität aus; er bedeutet aber auch eine Vernachlässigung meines Berufsethos. Ich muss mich darum kümmern, nicht nur im Ungefähren oder im pflichtbewussten Abarbeiten von Korrekturstapeln.

Zum Dritten hatte ich an der Freude teil, nach Jahren der fachlichen Konzentration ganz unterschiedliche Fächer und ganz unterschiedlich gestaltete Lernbeziehungen kennenzulernen. Musikgeschichte, Physik, anthroposophische Medizin – was gibt es nicht alles zu lernen, und wie schön wäre es, den Bulli zu packen, zu unbekannten Experten zu fahren und eine Woche lang bei ihnen zu studieren. Schnell wird deutlich, wie sehr das soziale Netz der Autor*innen Bedingung für Begegnungen ist. Dieses Buch ist im anthroposophischen Kontext entstanden, und die enge Vernetzung von Schulen, Akademien, Hochschulen und Orten beruflicher Praxis macht ein solches Projekt sicherlich leichter, als es dies an vielen staatlichen Schulen und Hochschulen wäre. Dieser Zusatz soll nicht das Erreichte schmälern – die Autor*innen schildern ein beeindruckend organisiertes, durchgeführtes und reflektiertes Projekt. Für alle, die nicht aus diesem Kontext stammen, hilft das Buch, die Organisationsbedingungen für ein eigenes Projekt zu definieren und an das eigene Netzwerk anzupassen.

Zum Vierten beeindruckte mich der sorgfältige und wortschatzreiche Sprachgebrauch.

Dankbar, inspiriert und noch nicht zu Ende gedacht empfehle ich die Lektüre allen Bildungsabenteurern und kreativen Lernenden.

Link zum Buch: https://www.urachhaus.de/Kompetenz-in-Sinnfragen/Persoenliche-Entwicklung/WanderStudiumGenerale.html

Transparenzhinweis: Ich habe das Buch auf einem Büchertisch entdeckt, es gekauft und kenne keine*n Akteur*in persönlich.

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