Das Netz ist voll mit Informationen zum guten Arbeiten im Home-Office – was sollten wir dazu Neues beitragen?

Am besten gar nichts. Wir berichten einfach, welche Wege wir gefunden haben. Offenbar ist schon einem kleinen Team der Umgang mit dem Arbeiten zuhause so unterschiedlich, dass Zehn-Punkte-Listen sinnlos sind. Wir freuen uns natürlich, wenn Ihr Eure Erfahrungen teilt. Vielleicht wir daraus dann doch wieder so etwas wie ein Sammelbecken an geisteswissenschaftlichen Heimarbeitstipps. Wir posten die Beiträge der Brotgelehrte-Autor*innen im folgenden einzeln.

Mareike

Meine Arbeit zuhause besteht derzeit aus vier großen Einheiten:

  1. meine (reduzierte) Kernarbeit,
  2. ein massiv erhöhtes (unbezahltes) Koordinations- und Kommunikationsaufkommen um diese Kernarbeit herum: Termine verschieben, nochmal verschieben, ins Netz auslagern, Fragen per Mail beantworten, Telefonate, Rückrufe für verpasste Anrufe während der Telefonate usw.,
  3. Kinderbetreuung, -erziehung, -bildung,
  4. Produktivität, Lebensfreude und Leistungsfähigkeit erhalten.

Diese vier Einheiten durchwirken sich. Wenn also Freund*innen fragen, wie ich das schaffe, „mit drei Kindern“, lautet die Antwort: Euer Bild von „Schaffen“ entspricht nicht meiner Wahrnehmung meines Tuns und weicht darüber hinaus von gängigen medialen Bildern des schaffenden berufstätigen Elternteils ab. Manches schaffe ich nicht, manches ignoriere ich bewusst und vertraue darauf, dass es sich schon finden wird.

Nun meine konkreten Antworten auf das „Wie“ der vier Einheiten:

Meine Kernarbeit erledige ich immer dann, wenn Ruhe herrscht. Ruhe herrscht in den frühen Morgenstunden. Tipps wie „Ziehen Sie sich fürs Homeoffice ordentlich an, dann fühlen Sie sich gleich professioneller“ funktionieren für mich nicht. Aufstehen, Frühsport, Kaffee, Arbeiten. Aus dem Schlafanzug kann ich immer noch, wenn die Kinder aufgestanden sind.
Wenn sich über den Tag plötzlich Ruhephasen ergeben oder ich sie herbeiführe, nicht darüber nachdenken, ob es gerade passt: hinsetzen, arbeiten. Die nächste Unterbrechung kommt bestimmt.

Neben den Ruhephasen gibt es die Halbruhephasen. Die sind ideal für Koordination und Kommunikation und auch die Vorbereitung von Schreibtisch und Arbeitsmaterial für die nächste Ruhephase, um sofort einsteigen zu können. To-Do-Listen und Belohnungslisten helfen mir, den Überblick zu behalten. Analog, nicht auf dem Handy. Das Handy geht im Zweifel mit dudelndem Hörbuch am Kind spazieren. Hierhin gehört auch die Daueraufgabe, eine ordentliche Kammer für Zoom-Konferenzen zu pflegen.

Daraus folgt, dass meine Form der Kinderbetreuung, -erziehung und -bildung nicht dem Coronaretro-Ideal der Mutter entspricht, die klaglos fremddefinierte Pflichten und Standards übernimmt und darin neue Erfüllung findet. Wir schauen von Tag zu Tag, was anliegt. Ich rege ab und zu an, was zu lernen, sich nicht zu streiten, in den Garten zu gehen, und verbuche es als Erfolg, wenn ein Kind sagt: „Also, was wir jetzt in der Schule machen würden – das würde mich mal wirklich interessieren!“

Ich staune, wieviel Kraft es kostet, Lebensfreude und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Sofort klingt eine missgünstige innere Stimme an, die mahnt: „Lebensfreude? Was sind das denn für Ansprüche? Denk an die Alten in der Lombardei und die Kinder in Moria! Mundschutz um, da ist Klappe halten gleich eingenäht!“ Nun lebe ich in der privilegierten Situation auf dem Lande, 7 Menschen der 13.500 Einwohner unserer Großgemeinde sind aktuell „infiziert“ (ich habe mir die Freiheit genommen, die „Genesenen“ abzuziehen, sonst kämen wir auf beeindruckende 11), viel Auslauf, mehr Ruhe als je zuvor. Es gibt hier keine unmittelbare Krisenarbeit zu leisten, die mittelbaren Maßnahmen dominieren. Also gibt es andere angemessene Aufgaben, und dazu gehören Lebensfreude und Differenzierung. Wie also kultiviere ich jene?

  1. Mein Mantra: Ich lasse die Angst und Ungewissheit anderer Menschen nicht mein Handeln leiten. Es ist so verführerisch, die Expertenrolle an Drosten, Wiehler, Streek abzugeben. Sie sind Fachleute in ihrem Gebiet, ich muss mich schon selbst daran erinnern, Expertin auf meinem Gebiet zu sein. So überprüfe ich immer wieder, ob meine eigene Urteilskraft ausschlaggebend für mein Tun und Sprechen ist; wo „Ethik“ sich mit Ge- und Verbot verträgt – und wo Ge- und Verbote eigentlich Imaginationen sind; wo der Wunsch, nicht abgewiesen zu werden oder Zuspruch zu bekommen, stärker ist als die Vernunft; wo die Überlieferung in zukünftigen Quellen abweicht von den beobachteten Zuständen; wo mich Medien so gut unterhalten, dass ich Konvergenz nicht mehr von Kausalität trenne. Statt Stay home! rufe ich mir 10 Mal am Tag zu: Bleib kritisch!
  2. Auswahl: Ich entscheide, welche Informationspakete in meinen Alltag sollen. Unproduktiv-spekulative, angstschürende oder nervige Botschaften werden rausgefiltert. Ich stelle manche facebook-Kontakte auf Snooze.
  3. Reflexion, z.B.: Mein jahrelanges Training zur Reduktion des Appell-Ohres zahlt sich aus und wird zugleich gerade auf eine neue, intensive Probe gestellt. #StayHome ist appellativ – wer schreibt das? Schreibt sie/er mir das? Warum? Ist es für mich sinnvoll? Ist die appellierende Person in einer Beziehung zu mir, die es nahelegt, diesem Appell zu folgen? Was heißt überhaupt „home“?
  4. Differenzierung: Es mag den Anschein haben, Geisteswissenschaftler*innen würden in der aktuellen Debatte nicht gebraucht; die Biowissenschaften mit Unterstützung der Mathematik haben Diskurshoheit gewonnen. Aber unsere Kraft liegt in der Differenzierungsfähigkeit, in der Beobachtung und Erklärung (feiner) sozialer und medialer Prozesse, in der Begründung von politischen und privaten Verhaltensweisen – und damit auch in deren Formung. Ich arbeite an kultur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen zu Gender und Diversität als Dimensionen von Globalisierung, zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen, zur Sozialdisziplinierung – und natürlich am Band „Brotgelehrte 3“ –, und warte nicht auf Applaus.
  5. Lektüre: Ich lese ganz vorwissenschaftlich alles, was im Schrank zum Thema Effizienz, Disziplin, Lebensgestaltung zu finden ist und prüfe, welche Impulse mir gerade weiterhelfen.
  6. Alles, was die Lebensfreude der Familie fördert, kommt in den Alltag: Schönheit, Frühling, Duft, Genuss, Sport, Spiel, Witze. Klappt nicht immer, sind aber To-Dos. Und erneut erinnere ich mich 10 Mal am Tag: Lieben ist ein Verb. Also liebe.

Welche Punkte möchte ich im Auge behalten für die Zeit der Öffnung?

  • Welche Arbeitsweisen haben sich bewährt, welche sind grundsätzlich gut, aber anpassungsbedürftig?
  • Es ist nicht erstrebenswert, in eine Normalität zurückzuwollen. Es ist vielmehr reizvoll, eine neue Normalität zu gestalten.
  • Wie finde, wie kommuniziere ich meine Haltung zu Freiheit, Grundrechten, demokratischen Entscheidungsfindungen?
  • Welches Berufsbild ergibt sich aus der Krise für uns als Geisteswissenschaftler*innen, gerade auch in Abgrenzung zur inszenierten Expertise verschiedener Naturwissenschaftler*innen?
  • Es geht um Positionen, nicht um Inhalte.

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