Viele, die derzeit in Abschlussphasen von BA, MA und Promotion sind, haben über die üblichen Stressthemen – Zeit ist knapp, Mehrfachbelastung, Bin ich gut genug? Wie geht es anschließend weiter? – In dieser Coronazeit zusätzliche Aufgaben. Einige Kommiliton*innen durfte ich begleiten, bei denen das Design und die Methodik der Arbeit nicht mehr funktionierten – Feldforschung und empirische Datenerhebung waren in den Lockdowns nicht möglich oder brauchten aufgrund der technischen Ebene ein methodisches Setup samt neuer Testpersonen, die diese Technik auch beherrschten und sich darauf einließen. Andere Kommiliton*innen litten während der Abschlusswochen, die ja ohnehin oft von Rückzug und Konzentration bestimmt sind, zusätzlich unter dem fehlenden sozialen Ausgleich, insbesondere dann, wenn sie zu persönlich belastenden Themen forschten. Eine andere große Gruppe beobachtete Ängste, weniger hinsichtlich einer Infektion, mehr hinsichtlich der Maßnahmen und deren gesellschaftlichen Folgen.
Was also könnt Ihr tun, um in der mentalen Balance zu bleiben?
Der Artikel gibt zwei Impulse. In unseren Workshops und Beratungen könnt Ihr sie vertiefen.
- Intuition und Systematik
Meiner Erfahrung nach spielt sich das Nervenaufreibende auf unterschiedlichen Ebenen ab, die sowohl professionell-aufgabenbezogen als auch von persönlichen Haltungen, Werten und Wahrnehmungen geprägt sind. Ein erster Punkt, den ich betonen möchte, ist, dass die akademische Qualifikation tatsächlich eine Phase ist, die als leichter empfunden wird, wenn die hohen persönlichen Anforderungen mit einem professionellen Lebensstil verknüpft werden. Dies bedeutet, dass z.B. der Umgang mit Zeit und Aufgaben nicht nur intuitiv und emotional geschieht – solange das gut klappt, ist nichts dagegen einzuwenden -, sondern nach Bedarf die Kompetenz zum rationalen „Management“, also der Analyse, Steuerung, dem Methodeneinsatz und dem vernunftgeleiteten Entscheiden und Handeln eingesetzt werden kann. Dies bedeutet weiterhin, dass auch die eigene Leistungsfähigkeit, Entscheidungskraft, Effektivität und Effizienz nicht mehr nur eine Frage der persönlichen Veranlagung und aktuellen Stimmung sind, sondern trainiert und systematisch eingesetzt werden. Ich finde es meist ganz stimmig, dass in Qualifikationssituationen eine Diskrepanz zwischen Intuition und Talent einerseits und dem systematischen, rationalen, zielgerichteten Einsatz von geübten Kompetenzen andererseits erkennbar wird. Hier reifen und wachsen wir in einen neuen beruflichen Status hinein. Die Anstrengung, die damit verbunden ist, ist gerechtfertigt. Und zugleich: Um in dieser Weise aus der eigenen Komfortzone herauszuwachsen, braucht es genau diese Phase mit extern gesetztem Rahmen „Prüfung“ und der inneren Erfahrung „Ich erkenne, wer ich werden, wohin ich mich entwickeln kann.“
2. Phasenbewusstsein
Die Selbstbeobachtung kann der Frage folgen, was es genau ist, das Dich aus der mentalen Balance wirft.
Dies ist erfahrungsgemäß veränderlich, und es kann helfen, nach den Stress-Eigenarten einer jeden Phase zu schauen. Zu Beginn von längeren Qualifikationsphasensind es oft Faktoren wie die soziale Akzeptanz, die Verunsicherung, welche Regeln und Qualitätsmerkmale gelten, welche konkreten Tätigkeiten sich mit der Abschlussarbeit in welcher Reihenfolge verbinden oder auch materielle und persönliche Sorgen (Geld, Wohnung, Ausstattung, Partnerschaft).
In der Mittelphase, wenn ins kontinuierliche Arbeiten gefunden wurde, sind es oft Faktoren von Organisation, Zeitnutzung, Aufgabenmanagement, Priorisierung, vielleicht auch eine gewisse Krisenkompetenz, wenn etwas stockt, scheitert oder ein kränkendes Feedback kam. Auch kommen bei vielen Menschen in dieser Phase weitere Aufgaben hinzu, die Zeit fressen und Druck auslösen, während der Promotion etwa akademische Lehre oder Präsentationen/Poster/Moderationen, während der BA- und MA-Arbeit ein Nebenjob, vielleicht auch Veränderungen im persönlichen Umfeld oder die Organisation von Auslands- und Feldreisen. Wenn wir zum ersten Punkt zurückgehen, dann gehörten in diese Phase Training und Etablierung guter Routinen sowohl für die Arbeit als auch für die Regeneration. Eine weitere Anforderung, für die im klassischen Zeitmanagement häufig nichts frei ist. Quicktipps können helfen, langfristig und gerade mit Blick auf die Schlussphase geht es aber um die Errichtung von Balanceroutinen.
Die Schlussphase ist häufig geprägt von einer Polarität aus “schnell fertig werden wollen/müssen” einerseits und noch nicht loslassen können oder Perfektionismus andererseits. Parallel dazu steht ein Statuswechsel an, der mit Freude und Druck verbunden ist, denn das Ende ist absehbar, aber man ist noch nicht ganz da. Für die Mehrheit ist die Abschluss- auch eine berufliche Übergangsphase, die Unruhe und Unsicherheit bringt. Zu diesen arbeits- und persönlichkeitsorientierten Fragen sorgen Beziehungsfragen für weiteren Stress, etwa zu Prüfenden oder auf formeller Ebene mit der Hochschulverwaltung. Diese Konflikte haben mitunter die unangenehme Eigenschaft, sich auszudehnen und andere anzustecken; zum Druck aus Zeit und Anspruch treten Verstimmungen. Positionierung, Konfliktfähigkeit, strategisches Denken sind gefragt, das Sammeln und der kluge Einsatz der eigenen Kraft ebenso.
Was kannst Du also tun?
- Entwickle frühzeitig gute Routinen. Wenn Du jetzt denkst: Na toll, zu spät, und jetzt? Dann entwickle jetzt gute Routinen. Starte klein. Täglich den Schreibtisch aufräumen, täglich ein Erfolgsjournal führen, vor dem Schreiben Powerposes, mindestens aber Lüften.
- Finde heraus, welche Art der Lebensführung Dir hilft, leistungsfähig zu sein. Ja, dazu gehört die ungeistige Dimension „Körper“, nämlich genug erholsamer Schlaf, gute Ernährung, Bewegung, Entspannung der beanspruchten Nacken- und Rückenmuskulatur, Entspannung der Augen. Hätte mir jemand das während der Promotionszeit gesagt, hätte ich natürlich gewusst, dass er/sie Recht hat. Trotzdem hätte ich es spießig gefunden. Die Erkältung zu jedem Urlaubsauftakt, die tiefe Erschöpfung während der Schlussphase hatte in meinem Fall natürlich nichts mit einer unangemessenen Lebensgestaltung zu tun. Dachte ich. Inzwischen, manche Leistungsphase später, merke ich, dass diese Leistungsphasen tatsächlich eine andere Gestaltung brauchen als Routinephasen; es ist hilfreich, wenn sie leistungsorientiert sind. Früh schlafen gehen, früh aufstehen, kalt duschen, meditieren, gesund essen, jede Pause eine Bewegungspause. Es ist spießig. Mir geht’s gut.
- Nutze Quicktipps, jedoch nicht zur Prokrastination. Tiefe Bauchatmung. To-Do-Lists. Timeboxing. Visionboards.
Bitte um Entlastung bei alltäglichen Aufgaben – stelle ein Team zusammen, das Wäschewaschen, Einkaufen, Kochen usw. übernehmen kann. Alles außer Gartenarbeit, die ein Geheim-Quicktipp ist, um aus dem Kopf wieder auf den Boden zu kommen und an Bandwurmsätze einen Punkt zu machen.
Ein weiterer Tipp ist erstaunlich unproduktiv und gerade darin hilfreich: Gehe ein strategisches Zuhör-Bündnis ein. Wie oft bemerken wir, dass der Gedanke erst im Sprechen Form annimmt. Es gibt nur wenige dieser goldenen Menschen, die die Kraft zum konzentrierten Zuhören gerade zu komplexen theoretischen Fragen haben. Die auch dann noch aufmerksam bleiben, wenn Du zum vierten Mal in die Schleife gehst, um endlich zwei Gedanken zu verbinden, die niemand zuvor verbunden hat. Um etwas Mehrdimensionales in das Zweidimensionale des Textes zu destillieren. Suche strategische Zuhörer, gehe ein Tauschgeschäft ein – ich höre fünf Minuten lang zu, Du hörst fünf Minuten lang zu. Sonst nichts. Damit die Gedanken zu Sprache reifen können. - Wir haben uns bei Brotgelehrte so aufgestellt, dass wir zu Fragen von Resilienzaufbau und Stressmanagement professionell unterstützen. Mareike Menne ist u.a. zertifizierte Resilienztrainerin und hat ihre Erfahrung als Geisteswissenschaftlerin mit den Inhalten und Methoden des Resilienztrainings verknüpft. Seit 2019 arbeitet sie mit einem Schwerpunkt zu Mental Health in der Wissenschaft, u.a. für und mit dem Netzwerk Thesis e.V.. Mit im Team ist Julian Varnholt, der die Perspektive auf Mental Health um Psychologie und Sportwissenschaft erweitert. Hier findet Ihr Infos zu unserm Angebot – kontaktiert uns gern!
2 Kommentare.
[…] die „ungeistige Dimension ‚Körper‘“ verwies ich in meinem Beitrag Ausgeglichenheit in Abschlussphasen. Doch wie können wir uns dieser Dimension gerade in Stressphasen mit hohem Schreibtischanteil und […]
[…] Stress und Mehrfachbelastung ausgeglichen durch diese Phase schafft, könnt Ihr im Blog-Artikel Ausgeglichenheit in Abschlussphasen nachlesen. Stress und Druck entstehen natürlich auch im Berufsleben. Um diesem zu entgehen, lenkt […]