Kultur-Zukunft suchend.
Ein Weiterdenken zu Julia Koops Beitrag Kultur sucht ihre Identität – Eine Anregung zum Umdenken – Brotgelehrte
Nach einem Homeoffice-Tag beschloss ich, mich zu belohnen, und bestellte ein paar Bücher im verlag hermann schmidt. Als das Päckchen kam, lag darin eine Karte, auf deren Rückseite ein handgeschriebener persönlicher Gruß stand. Ich staunte, und war als Bedachte froh darüber, dass es in diesem Verlag offensichtlich Menschen gibt, die bereit sind, einen oder mehrere Schritte mehr zu gehen als unbedingt nötig. Vielleicht war dieses Detail gar nicht mit der Absicht versehen, dass ich es als Absage an soziale Distanz verstehe, was ich tat; mir genügt räumliche Distanz vollauf.
Auf der anderen Seite der Karte steht: „Kreative haben die herausragende Gabe, Menschen mit neuen Dingen vertraut zu machen und Vertrautes in neues Licht zu rücken. So bewegen sie die Welt.“ Bei der Suche nach Antworten auf Julia Koops Fragen sah ich in dieser Karte ein paar Startpunkte.
Menschen mit neuen Dingen vertraut zu machen, ist eine Gabe. Vertrautes in neues Licht zu rücken ist eine Gabe. Ich stimme dem zu, und zugleich denke ich darüber hinaus: Damit Kreative mit ihrer Gabe tatsächlich die Welt bewegen, müssen sie den Willen und die Tatkraft aufbringen, ihre Gabe ins Leben zu lassen, sie in Arte- und Mentefakte zu übersetzen. Sie müssen auswählen, mit welchen neuen Dingen sie welche Menschen auf welche Weise vertraut machen wollen. Oder welches Vertraute sie in neues Licht rücken möchten, welche Qualität dieses Licht hat, wo es leuchtet, wie und für wen es wahrnehmbar wird. Das sind viele Entscheidungen, die vor dem Werk stehen. Die Gabe allein bewegt die Welt eben nicht.
So wirkt es auf mich merkwürdig unverbunden, wenn Kreative als Kulturschaffende auf den Stellenwert der Kultur in der Krise verweisen, und ich zugleich nach Angeboten suchte, die mir halfen, mich mit den neuen Dingen vertraut zu machen und Vertrautes in neues Licht zu rücken. Vielleicht war das erste „Werk“ das erschütterte Vertrauen, Angebote der Kulturwirtschaft und Kulturinstitutionen seien einfach immer da und plätschern halt so vor sich hin, offene Ateliers im Sommer, Vernissage im September, Buchvorstellung im herbstlichen Frankfurt, Erinnerungskultur im November, Weihnachtsoratorium/Zauberflöte im Dezember, mal ne kleine Provokation, mal ein schrulliger Mansplainer als Gastkünstler, natürlich die Ringvorlesung zum Mottojahr …
Ihr wisst schon, immer so weiter, irgendwie wichtig, vielleicht auch nur nett, Gesprächsstoff. Aber jetzt, da es fehlt, fehlt … tja, was genau?
Das Soziotop – die Erfahrung, akzeptiertes Mitglied einer Gesellschaft zu sein, die gern laut, offen, in alle Richtungen, experimentierend, leidenschaftlich, irrend, großspurig, exakt denkt, streitet, sich mitreißen lässt im gemeinsamen Gedankenstrom. Dafür brauchen wir Begegnung und Resonanz. Ja, man kann sich bei Begegnungen mit irgendwas anstecken. Im besten Fall mit einem Funken, der uns Entwicklung ermöglicht. Aber auch für den Fall der Ansteckung, für Krankheit und Tod lernen und praktizieren wir in Begegnung kulturelle Formen, die lindern, heilen, trösten. Es ist aus kultureller Sicht natürlich nicht die Frage, ob wir sterben, sondern wie wir leben. Zeit, dieses „Wie-wir-leben“ unter neuen Bedingungen zu gestalten statt nur auszuhalten.
Ja, es fehlt durchaus auch die Unterhaltung, nicht nur Hochkultur. Zerstreuung. Kraft sammeln im Gelächter, im Rausch, im Auenland, Selbstdistanz üben in der Beobachtung der Liebe und des Todes der anderen.
Das Leben in mehr als einer Wirklichkeit und Geschwindigkeit. Die Selbstvergewisserung: Ich bin mehr als Körper, du bist mehr als eine maskierte Statue. Verwaltung und Verordnungen sind auch nur eine Wirklichkeitsebene, denn daneben beharren Musik, Poesie, Mode und Tanz. Gäben sie auf, blieben – Verwaltung und Verordnungen, intellektuelle Wüsten in immergleicher Pandemielage, der man mit gegenwartsbezogener Achtsamkeit gespenstisch erliegen kann. Und doch sind da noch die großen überzeitlichen Dynamiken, die uns immer auch mittragen: Die Geschichte ist eben nicht zu Ende. Sie durchwebt unser Sein bis zur 1919SpanischeGrippeRetrostoffmaske als „Verantwortungssymbol“. Die wiederum tatsächlich „Kultur“ als symbolisch aufgeladenes, mit Regeln versehenes Artefakt ist.
Die Teilnahme an Kulturveranstaltungen oder Formen kultureller Praxis bergen schließlich auch kathartisches Potenzial. Mitweinen im Film, Transzendenzerfahrungen im Gottesdienst, der Nachvollzug von Kampf und Aggression in der tänzerischen Bewegung erlauben eine Spannungsabfuhr, die auf andere Art im Alltag möglicherweise unangemessen wäre. Die Distanzsituation einerseits, die fehlende emotionale Qualität der wenigen Begegnungen aufgrund der Einschränkungen der Maske andererseits reduzieren bereits im Alltag die Möglichkeit der beiläufigen Spannungslösung. Wenn Kulturveranstaltungen fehlen und uns die Möglichkeit genommen ist, selbst kulturelle Praktiken zu vollziehen, staut sich die Anspannung. Kultur ist Reinigung, sie bietet Entlastungen. Kulturveranstaltungen, die diese Reinigung und Entlastung ermöglichen, fehlen nicht nur für eine grundsätzliche „Gesundheit“, mindestens aber Salutogenese, sondern gerade auch für die Anpassung an die Bedingungen einer Gesellschaft in der Pandemie. Diese Qualität geht weit über Unterhaltung hinaus. Darin liegt der ernsthafte, nachhaltige, grundsätzliche Wert professionellen kulturellen Schaffens. Und eine Verpflichtung nicht nur derjenigen, die Kulturveranstaltungen und kulturelles Schaffen derzeit untersagen, sondern auch derjenigen, deren selbstgewählte Aufgabe es ist, „Kulturschaffende“ zu sein – Formate, Ausdrucksformen, kulturelle Praktiken zu finden, die es Menschen erlauben, sich mit dieser neuen Gegenwart vertraut zu machen. Und die alten Selbstverständlichkeiten zu verfremden.
Letztlich (für heute) wohnt Kultur immer auch das Potenzial zum Widerstand inne: Nous on veut continuer à danser encore.
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[…] Ein Weiterführen der Gedanken von Mareike Mennes Beitrag Kultur-Zukunft suchend. […]