
In den Workshops dieses Jahr wiederholte sich eine Frage: Sollen wir als Geisteswissenschaftler:innen programmieren lernen, um die Quereinstiegsmöglichkeiten zu verbessern? Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen antworten: Das steht Euch natürlich freu, aber tendenziell eher nicht.
Ein stagnierender, aber sich verschiebender Arbeitsmarkt
Die aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Die Gesamtbeschäftigung in Deutschland stagniert. Gegenüber dem Vorjahr liegt der Zuwachs bei gerade einmal +0,1 % – also kaum Bewegung auf hohem Niveau.
Doch innerhalb dieses Stillstands gibt es deutliche Verschiebungen:
Wachstum verzeichnen vor allem dienstleistungsorientierte Sektoren – insbesondere
- öffentlicher Dienst (einschließlich Verwaltung, Bildung, Sozialversicherung, Verteidigung),
- Erziehung und Unterricht,
- Gesundheit, Soziales und Pflege,
- sowie freiberufliche und sonstige Dienstleistungen.
Dagegen ist der Bereich Information und Kommunikation, der oft mit „Digitalwirtschaft“ gleichgesetzt wird, derzeit leicht rückläufig.
Kein digitaler Boom, sondern eine Konsolidierung
Das widerspricht dem verbreiteten Reflex: „IT und KI boomen – also können wir da rein.“
Die Realität ist komplexer.
Nach Jahren der Überhitzung befindet sich der IT- und Kommunikationssektor in einer Konsolidierungsphase. Viele Unternehmen reduzieren Personal oder restrukturieren. KI automatisiert mittlere Tätigkeiten, gerade im Content- und Kommunikationsbereich. Neue Rollen entstehen zwar, aber in geringer Zahl und meist an den Schnittstellen anderer Branchen – etwa in Bildung, Verwaltung oder Gesundheitswesen. Das Wachstum verlagert sich also aus der IT-Branche hinaus in gesellschaftsnahe Felder, in denen Digitalisierung nicht Ziel, sondern Werkzeug und Haltung ist. Da liegt unser potenzielles Arbeitsfeld, in der Anwendung unserer Fächer und transdisziplinären Verschränkungen, nicht in oberflächlichen Programmierkenntnissen zum Quereinstieg.
Kompetenzillusionen – für Technik und Bildung gleichermaßen
Aus dieser Verschiebung erwächst ein zweites, oft nicht angesprochenes Risiko für unsere Kommiliton:innen: die Kompetenzillusion.
Manche denken, ein kurzer Kurs oder eine Zusatzqualifikation reiche, um „employable“ zu werden – sei es im Programmieren, in der Pädagogik oder im Projektmanagement. Kann sein, doch dann oft eher auf unangemessenem Niveau oder in der Fortführung eines studentischen Jobs. Ein Wochenendkurs in Coding beschert niemandem konkurrenzfähige, professionelle Entwicklungsskills. Alle 13-Jährigen mit kontinuierlichem Spaß an Programmierung und Selbstlern-Erfahrung sind tiefer drin. Ebenso ersetzt ein pädagogisches Basisseminar keine fundierte didaktische, methodische oder organisationale Erfahrung. Auch in den wachsenden Feldern – Bildung, Beratung, öffentlicher Dienst – konkurrieren Bewerber:innen aus unseren Fächern mit komplexen, interdisziplinären Profilen, die Digitalität, Kommunikation, Organisationsentwicklung und Fachwissen selbstverständlich verbinden. Wer denkt: „Ach komm, ich habe ein Uni-Studium und kann Latein, das sticht jeden FH- und Ausbildungs-Abschluss“, irrt.
Wachstum bedeutet nicht automatisch leichten Zugang. Die attraktiven Bereiche ziehen gut qualifizierte, oft hybride Berufsbiografien an – Menschen, die zwischen Verwaltung, Bildung, Sozialwissenschaft und Digitalisierung vermitteln können.
Öffentlicher Dienst: Stabilität mit neuen Spannungen
Der öffentliche Dienst ist einer der wenigen Bereiche, in denen die Beschäftigung derzeit zunimmt. Das hat mit Fachkräftemangel, Stabilitätsbedürfnis und dem wachsenden Aufgabenfeld staatlicher Transformation zu tun: Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Bildung, Klima- und Sicherheitspolitik – all das sind Verwaltungs- und Wissensaufgaben.
Aber: Der öffentliche Dienst ist nicht als rein ziviler Sektor zu denken. Er umfasst auch Militär, Verteidigung, Beschaffung und Sicherheitsforschung.
Mit dem Ausbau der Bundeswehr, der Aufrüstung der Infrastruktur und dem Aufwuchs im Sicherheitsapparat entsteht eine schleichende Remilitarisierung des Arbeitsmarkts – ebenso, wie wir diese Tendenz in den öffentlichen Diskursen erleben.
Für Geisteswissenschaftler:innen heißt das zweierlei:
- Erstens wächst der Bedarf an reflektierter Orientierung: Wo will man mit seinen Kompetenzen wirken – und unter welchen institutionellen und politischen Rahmenbedingungen?
- Auch nicht-zivile Bereiche eröffnen neue Rollen – in Strategie, Kommunikation, Ethik, Organisationsberatung oder interkulturellem Verständnis.
Chancenräume: Wo Übersetzung zählt
Ob in Verwaltung, Bildung, Sozialarbeit oder Sicherheitsstrategie – fast überall geht es inzwischen um Übersetzungsarbeit:
- zwischen Fach- und Alltagssprache,
- zwischen Daten und Entscheidungen,
- zwischen Technik und Sinn,
- zwischen Institution und Öffentlichkeit.
Hier liegt das eigentliche Potenzial der Geisteswissenschaften: Bedeutung zu erzeugen, wo Komplexität wächst.
Das erfordert keinen Quereinstieg in technische Disziplinen, sondern die Weiterentwicklung der eigenen Stärken – analytisch, sprachlich, organisatorisch, didaktisch. Dabei lohnt sich ein Perspektivwechsel: Viele Studierende denken IT- und Programmierkenntnisse immer noch auf fremde Branchen hin – als Türöffner in die Wirtschaft, Medien oder Tech-Firmen. Doch das eigentliche Potenzial liegt darin, sie auf die eigenen Felder zu beziehen:
- auf kulturelles Erbe, wenn es um Digitalisierung von Archiven, Sammlungen und Editionen geht,
- auf Bildung und Didaktik, wenn es um KI-gestützte Lernumgebungen oder digitale Lernformate geht,
- auf Kommunikation, wenn digitale Tools Reflexion, Diskurs und Teilhabe ermöglichen.
Die entscheidende Kompetenz ist also nicht „Programmieren können“, sondern Technologien kontextualisieren können – zu wissen, wo, wann und wozu digitale Werkzeuge sinnvoll sind. Und es bedeutet auch: Einfach unbelegt die Wichtigkeit der eigenen Disziplinen und des eigenen Intellekts zu behaupten, ist Hybris.
Fazit
Die Arbeitsmarktdaten 2025 zeigen keine simple Aufteilung in „Boom-“ und „Krisenbranchen“. Sie zeigen, dass gesellschaftsnahe Sektoren wachsen, während die rein technischen sich neu sortieren. Für Geisteswissenschaftler:innen eröffnet das reale, aber anspruchsvolle Chancen: dort, wo Wissen in Wirkung, Werte in Orientierung und Sprache in Entscheidung übersetzt wird. IT-Kompetenzen bleiben wichtig, aber nicht als Eintrittskarte in fremde Branchen, sondern als Werkzeug zur Gestaltung der eigenen.
Quellen und weiterführende Hinweise
- Bundesagentur für Arbeit (2025): Bericht über die Beschäftigtenentwicklung nach Wirtschaftszweigen, August 2025.
Einzelausgaben – Statistik der Bundesagentur für Arbeit - Bundesagentur für Arbeit (2025): Arbeitsmarktbericht Oktober 2025.
https://www.arbeitsagentur.de/datei/arbeitsmarktbericht-oktober-2025_ba054838.pdf - Kontextinformationen zur Remilitarisierung: Deutscher Bundestag, Haushaltsgesetz 2025 – Einzelplan 14 (Verteidigung).
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