Was wir lesen: “Dichterinnen und Denkerinnen – Frauen, die trotzdem geschrieben haben” von Katharina Herrmann (Reclam 2020)

Ich bin als Kind und Teenager auf die Ricarda-Huch-Schule gegangen; besonders in Erinnerung geblieben ist mir allerdings nicht der Name dieser Schriftstellerin, sondern das dunkle Gebäude mit der Wendeltreppe. Über die Namensgeberin haben wir tatsächlich gar nichts gelernt. Zugegeben, damals war mir der Name meiner Schule schlichtweg egal, es war einfach kein Thema für mich. Heute sieht das anders aus; Namen fallen mir auf, Namen sind bedeutsam, weil sie Geschichte und auch Werte vermitteln. Ob nun Straßennamen, Denkmäler berühmt(-berüchtigter) Menschen oder auch Institutionen wie die Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Momentan gibt es zum Beispiel eine öffentliche Debatte darüber, ob die Universität einen neuen Namensgeber oder eine neue Namensgeberin bekommen sollte (siehe z.B. Pro und Contra auf openpetition).

Ricarda Huch ist eine von zwanzig Frauen, die in Katharina Herrmanns Buch „Dichterinnen und Denkerinnen“ vorgestellt werden. Über jede Frau gibt es ein Kapitel, das ihren Lebens- und Schaffensweg nachzeichnet sowie eine Illustration von Tanja Kischel; die Porträts sind gewagt, minimalistisch, trotzdem bunt. Im Inhaltsverzeichnis findet Ihr eine Übersicht über die Frauen, die vorgestellt werden, von Luise Gottsched bis Mascha Kaléko.

Es ist kein Geheimnis, dass Frauen in ihrem künstlerischen Schaffen anders bewertet wurden und werden als Männer. Natürlich gibt es auch bei der Betrachtung dieses Themas Intersektionen zwischen Gender, Sexualität, Bildungsstand, (sozialer) Herkunft, „race“ und noch vielen weiteren Kategorien. Eins kann man zumindest in der Betrachtung von cis-Männern und cis-Frauen, die geschrieben haben, festhalten: Ihre Literatur wird anders bewertet, anders besprochen, anders verlegt, anders kanonisiert. Ja, auch heute noch (dazu ein toller aktueller Artikel über den Bachmann-Preis 2021 von Marcel Inhoff: Verstimmte Liebhaber – Der Bachmann-Preis 2021 – 54books, oder hier auch ein sehr lesenswerter Beitrag von Nicole Seifert über die Darstellung von Autoren und Autorinnen im Feuilleton: Schweig, Autorin – Misogynie in der Literaturkritik – 54books).

Der Untertitel „Frauen, die trotzdem geschrieben haben“ bezieht sich also auf die teilweise sehr persönlichen, aber auch gesellschaftlich-systemischen Hürden, die Autorinnen in ihrer jeweiligen Zeit und Situation überwinden mussten; Hürden, die sich Autoren mehrheitlich nicht gestellt haben. Privilegien sind bekanntlich ja nicht unbedingt das, was man hat, sondern sind die Steine, die einem eben nicht in den Weg gelegt werden.

Illustrationen von Tanja Kischel (s.u.)

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle im Text die vorgestellten Autorinnen auf eine Weise verbinden: Ich wollte alle diese tollen, schreibenden Frauen in ihrem Kampf gegen das Patriarchat vereinen, das Frauen klein hält und in vorgefertigte Schubladen steckt, deren Etikett „Ehefrau und Mutter“ ihr künstlerisches Schaffen einengt oder erschwert. Und während ich dies versuchte, tappte ich in eine Falle, dir wir im interdisziplinären Brotgelehrte-Team thematisierten und schließlich „history bias“ nannten. „History Bias“ beschreibt in unserem Wortgebrauch die Verzerrung einer linearen Emanzipationsgeschichte der Frau, die die historische Vielfalt und historisch-kulturellen Eigenarten von Frauenleben reduziert auf „früher“. Mareike wies auf Johannes Fabians Essay Time and the Other hin, der die Reduktion historischer Personen auf statische Objekte entfaltet.

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Das bedeutet, dass wir diese „Damals-war-Ehefrau-und-Mutter-die-soziale-Norm“-Schublade bearbeiten müssen. Hermanns Band hilft dabei; die Autorinnen aus „Dichterinnen und Denkerinnen“ lassen sich in keine einzige Schublade stecken. Sich herbeizuwünschen, dass sich alle diese Frauen gegen ähnliche oder gleiche Hindernisse, Störungen und Vorurteile stemmen mussten, nur um sie in eine Tradition feministischen Aktivismus stellen zu können, verkennt die realen und einzigartigen Lebensumstände, in denen diese Frauen gelebt und geschrieben haben.

Wir treffen bei den vorgestellten Dichterinnen auf ganz vielfältige Arten der Lebensgestaltung: auf (einmal oder mehrmals) verheiratete Frauen, auf Witwen, auf Frauen in der Ständegesellschaft und Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft, auf alleinstehende Frauen, auf Mütter, auf kinderfreie Frauen, auf wohlhabende und arme Frauen, auf Frauen, die Dutzende Texte verfasst haben und solche, die nur eine Handvoll verfasst haben, auf Frauen, die noch zu Lebzeiten Anerkennung gefunden haben und auf solche, die erst nach ihrem Tod wirklich gewürdigt wurden. All diese Frauen haben außergewöhnliche Texte verfasst.

Wir treffen auf die erste Frau, die einen Ehren-Doktor-Titel erhalten hat (hier extra nicht mit * geschrieben), auf die erste Bestseller-Autorin und auf die Frau, die der mehr oder minder zweifelhaften Ehre zukommt, den ersten sogenannten „Frauenroman“ geschrieben zu haben. Hierbei handelt es sich um Sophie von La Roche, und die Geschichte um die Veröffentlichung ihres Romans „Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, 1771, kann auf unterschiedliche Art interpretiert werden: Katharina Herrmann interpretiert die Herausgabe von La Roches Roman durch den Verleger und Autor Christoph Martin Wieland und sein Vorwort, das den Roman keineswegs als „Werk der Kunst“ beurteilt, sondern vielmehr als Unterhaltung für junge Frauen, als ein Affront gegen die Autorin, und alle nachfolgenden Autorinnen (siehe S. 21). Herrmann sieht in Wielands Betitelung des Romans als „Frauenroman“ den Anfang einer zweifelhaften Tradition: Frauen schreiben unterhaltendes für andere Frauen, Männer schreiben kunstvolles für alle. Sie schreibt aber auch: „Und dennoch wurde damit gleichzeitig der Raum, der Frauen zugestanden wurde, erweitert“ (siehe S. 21f.). Eine andere mögliche Interpretation könnte vielleicht auf einen stärkeren Entscheidungswillen und Wunsch von Sophie von La Roche hindeuten: Nach einer anonymen Veröffentlichung besagten Romans wollte die Autorin vielleicht ein größeres Publikum erreichen, und endlich unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen, und entschied sich mit Wieland dazu, den Roman um ein Vorwort des bekannten Dichters zu ergänzen – heutzutage würde man dies wohl eine kluge Marketingentscheidung nennen (auch dies war ein Vorschlag von Mareike). Der Erfolg des Romans zur Zeit der Neuveröffentlichung spricht jedenfalls Bände.

Themen, die ich besonders interessant finde und die auch in diesem Buch eine mitunter große Rolle spielen, sind unter anderem Freund(innen)schaften zwischen Frauen und die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und Berichterstattung über Frauen, besonders über jene, die ihre zugewiesenen engen Rollenmuster in mehr als einer Weise durchbrochen haben (dazu hat mir besonders das Kapitel über Louise Aston gefallen). Besonders auffällig war auch immer wieder, wie viele vorgestellte Frauen sich entweder (teilweise flüchtig oder nur vom Namen her) gekannt haben, und wie sie in Künstler-Kreisen empfangen oder eben nicht empfangen wurden.

Ich würde das Buch all jenen Leser*innen empfehlen, denen kein Name einfällt, wenn sie nach einer deutschen Dichterin, Schriftstellerin oder Denkerin gefragt werden. Oder die lange Zeit vielleicht nur einen Namen kennen, weil ihre Schule nach dieser außergewöhnlichen Frau benannt wurde. Die Porträts der Autorinnen sind angereichert mit Zeilen aus ihren Briefen, Essays, Romanen und Gedichten. Man kann also als Leser*in ein Gefühl von Erzählstimme, Thematik und Stil bekommen, und wird neugierig auf den ganzen Text oder gleich das ganze Werk. Am Ende jedes Kapitels findet sich zur weiteren Recherche eine Literaturauswahl.

Text von Anna Lemke

Weitere Infos:

Katharina Herrmann: Dichterinnen und Denkerinnen. Frauen, die trotzdem geschrieben haben. Reclam Verlag. Regensburg 2020 (2. Aufl.). (Interview: Katharina Herrmann über “Dichterinnen & Denkerinnen” – Weibliches Schreiben und männliche Arroganz (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de))

Illustrationen von Tanja Kischel: Tanja Kischel, Grafikdesign und Illustration

Blog „Kulturgeschwätz“ von Katharina Herrmann: https://kulturgeschwaetz.wordpress.com

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